Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier absolvierte vom 30. Juni bis 2. Juli einen dreitägigen Staatsbesuch in Israel. Der Grund: die Verabschiedung des israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin. Dass Steinmeier mit militärischen Ehren empfangen wurde, dass er Yad-Vashem besuchte, dass von beiden Staatspräsidenten die unverbrüchliche Freundschaft zwischen Israel und Deutschland beschworen wurde und dass beide Staaten entschlossen seien, „gegen Antisemitismus, Rassismus und Hass“ zu kämpfen (Zeit-online v. 01.07.21) – davon war in den bundesdeutschen Medien ausführlich die Rede. Dass Steinmeier auch auf den israelisch-palästinensischen „Konflikt“ einging, wurde, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Und überhaupt nicht berichtet wurde über den Inhalt seiner bemerkenswerten Rede.
Prof. Dr. Susan Neiman, die bekannte US-amerikanische Philosphin und seit dem Jahr 2000 Direktorin am Einstein Forum in Potsdam, fand jedenfall Steinmeiers Rede überaus bemerkenswert. Vor allem, weil er in seiner Rede in Yad-Vashem drei Israelis geehrt hatte, die für ihre Kritik an der israelischen Regierung bekannt geworden sind. Es waren der Schriftsteller
- David Grossmann (der seinen Lesern kürzlich in der SZ erklärte hatte, warum er das Wort „Apartheid“ benutze),
- die Soziologin Eva Illouz (sie hatte in der Berliner Zeitung geäußert, dass die Knesset-Partei Otzma Yehudit weit rechtsradikaler sei als europäische Rechtsparteien und sie im Grunde nur mit dem Ku-Klux-Klan verglichen werden könnte) und
- der Philosoph Omri Boehm (er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Israel nicht zugleich jüdisch und demokratisch sein könne, wenn 50 Prozent seiner Einwohner – die Palästinenser – kaum Bürgerrechte genießen).
In vielen jüdischen Gemeinden seien Positionen wie die von Grossmann, Illouz und Boehm keine Seltenheit und würden offen debattiert. Ganz anders in Deutschland. Hier würden solche Positionen und Debatten für illegitim, ja für antisemitisch erklärt. Hätte der BDS-Beschluss von 2018 Gesetzeskraft, dann dürfte keiner der genannten israelischen Denker in staatliche gefördertem Rahmen in Deutschland auftreten.
In einem langen Essay in der Berliner Zeitung v. 18.07.2021 führte Susan Neiman weiter aus: „Die Entscheidung des Bundespräsidenten, sich mit verschiedenen israelischen Stimmen zu treffen, zeigte deutlich, dass er keine Scheu hat, sich mit dieser Gegenwart auseinanderzusetzen. Nur durch Anerkennung verschiedener Denkrichtungen lassen sich demokratische Prinzipien aufrechterhalten. […] Boehm ist Professor an der New School in New York, wo einst viele deutsche Emigranten – darunter Hannah Arendt – wirkten. Derzeit lebt er in Berlin. Als der jüngste der genannten Denker wirkt er am leichtesten angreifbar.“
Susan Neiman bezieht sich in ihrem sehr lesenswerten Essay auf die universalistischen Traditionen im Judentum und auf die ideologischen Veränderungen, die in den USA im Zusammenhang mit der Black-Lives-Matter-Bewegung stattgefunden haben. Hunderte jüdischer Organisationen, darunter das United States Holocaust Memorial Museum, hätten sich gegen Rassismus gestellt – im Namen dieser jüdischen Traditionen. „Und auch“, schreibt sie, „wenn nur eine Minderheit der heutigen israelischen Bevölkerung zum Universalismus steht, ist diese Geisteshaltung auch dort vorhanden. Sie zeigt sich etwa in der unermüdlichen Arbeit von Menschenrechtsorganisationen wie Breaking the Silence, Parents Circle, Combatants for Peace oder Ta’ayush. Die Organisation B’Tselem nennt sich nach einem biblischen Zitat: ‚Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen.‘ So banal es klingen mag, muss es dennoch wiederholt werden: Menschenrechte gelten für alle Menschen.“
Die universalistische Tradition sei auch von den großen deutsch-jüdischen Denkern vertreten worden: Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Albert Einstein. Umso trauriger sei es, dass diese Tradition heute so sehr in Vergessenheit geraten sei und dass viele Deutsche von der Vielfalt jüdischer Meinungen so erstaunt seien. „Hierzulande sind die nationalistischen jüdischen Stimmen so laut, dass die anderen übertönt wurden, und dass selbst die eigene Geistestradition unbekannt bleibt.“
Dass der Bundespräsident universalistisch denkt, hätten nicht nur seine Unterstützung der Vielfalt jüdischer Meinungen gezeigt. Am 22. Juni diesen Jahres war Steinmeier der erste deutschen Bundespräsident, der auch den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit klaren Worten bedachte. Selbstverständlich könnten Historiker, so Neiman weiter, die Unterschiede zwischen diesen Verbrechen herausarbeiten, moralisch aber sollten sie zusammen gedacht werden. Der Bundespräsident habe an die Abermillionen an Ziviltoten, an die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener, die Belagerung Leningrads erinnert. Seine bewegende Rede sei der Lebensgeschichte des Rotarmisten Boris Popov gefolgt – um klarzustellen, dass hinter den Toten Einzelschicksale verborgen seien, die sichtbar gemacht werden müssten. „Auch hier zeigte der Bundespräsident, dass deutsche Geschichte heute neu gelernt werden muss, um über die Zukunft nachzudenken. Denken wir gemeinsam darüber nach!“
Inzwischen wird Susan Neiman natürlich in Deutschland kritisiert. In der FAZ v. 22.07.2021 bemängelt Patrick Bahners die angeblich falsche Vereinnahmung von Hannah Arendt. Neiman reagierte darauf mit einem Leserbrief, der auch abgedruckt wurde. Es geht dabei um Neimans Frage, ob Hannah Arendt oder Albert Einstein wohl heute unter den gegenwärtigen Bedingungen in Deutschland auftreten könnten. „Die beiden Denker habe ich genannt, um zu zeigen, dass es in der Debatte um den BDS-Beschluss des Bundestags weder um Achille Mbembe noch um postkoloniale Theorie geht, sondern um Prinzipien, die durchaus von anderen Denkrichtungen aufrechterhalten werden. Zu diesen Prinzipien gehört die Möglichkeit, eine Politik zu kritisieren, wenn sie gegen die internationalen Menschenrechte verstößt.“
Sönke Hundt