Sarah El Bulbeisi: Tabu, Trauma und Identität. Subjektkonstruktionen von Palästinenserinnen in Deutschland und der Schweiz, 1960-2015

Buchrezension: Dr. Detlef Griesche, Dez. 2021

Dieses auf der Basis einer Promotion entstandene Buch füllt in zweierlei Hinsicht eine Lücke in der Literatur zu Palästina/ Israel aus. Es werden zum einen im Gegensatz zu den meisten bekannten Studien und Publikationen, die vor allem die Situation und die Probleme in Palästina und Israel behandeln, sowie die Diskussion über Antisemitismus und BDS in Deutschland, die Probleme von Jugendlichen mit palästinensischem Migrationshintergrund in Deutschland und der Schweiz erforscht und zum zweiten wird damit verbunden ein Beitrag zu psychotherapeutischen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für Jugendliche mit Migrationshintergrund angesichts ihrer von Vertreibung und Unterdrückung geprägten Familiengeschichten ganz allgemein geleistet.

Die Autorin ist selbst als Tochter eines Palästinensers in der Schweiz aufgewachsen. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität München und leitete dort den Hochschuldialog „Gewalt, Flucht und Exil: Trauma in der arabischen Welt und in Deutschland“. Sie promovierte vor diesem Erfahrungshintergrund über dies Thematik und erhielt daraufhin ein Lizenziat an der Universität in Zürich. Seit November 2019 arbeitet sie als wiss. Mitarbeiterin am Orient –Institut Beirut.

Ihre jetzt als Buch erschienene Promotion ist keine ideologisch aufgesetzte Arbeit , sondern fußt sowohl auf zahlreichen Direkt-Gesprächen und Lebensgeschichten, wie auch teilnehmender Beobachtung und untersuchte das Spannungsverhältnis zwischen den persönlichen und Familiengeschichten von PalästinenserInnen der ersten und zweiten Generation, die von Erfahrungen wie Vertreibung, jahrzehntelanger Diskriminierung, Ignoranz, Verfolgung und Enteignung geprägt wurden und der Wahrnehmung der völligen Verkehrung der Realität des Palästina/ Israel- „Konflikts“ in der medialen und politischen Darstellung in Westeuropa. Ein „Buch über das Schweigen“, wie es die Autorin formuliert, für die es „wichtiger war, das Schweigen zu erforschen als das Sprechen“. Eines ihrer Hauptanliegen ist es, „die Folgen von Nichtanerkennung und Tabuisierung von Gewalterfahrung und Identität (der Palästinenser zu untersuchen) sowie der israelischen und europäischen Weigerung, Verantwortung für Gewalt zu übernehmen.“

Bislang haben die wenigen Arbeiten zu Thema kaum Eingang in die grundlegende Erforschung und Aufarbeitung des sog. Nahostkonflikts gefunden. Die systematische Aufarbeitung der palästinensischen Geschichte und ihrer Einzelaspekte findet aktuell eher an Universitäten wie Oxford und Beirut statt und wird in Deutschland in einzelnen Büchern von Professorinnen wie Aleida Assmann und Helga Baumgarten statt, die entsprechend von den Interessenvertretern der israelischen Politik angegriffen werden. Die Arbeit von El Bulbeisi füllt auch angesichts des Fehlens eines palästinensischen Nationalarchivs für die Zeit vor 1993 eine bedeutende aber wenig erforschte Lücke der westeuropäischen palästinensischen Diaspora.

El Bulbeisi definiert die Erfahrungen und Erlebnisse, die PalästinenserInnen auf ihrer Flucht und Vertreibung seit 1948 erfahren haben und die nicht öffentlich anerkannt werden, als „Diskursive Gewalt“. Die dramatischen Folgen der Nakba, die im Prinzip bis heute durch stille Vertreibung per Landraub, Siedlungsbau, Haus- und Olivenplantagenzerstörungen und anderen infrastrukturellen Apartheidsysteme anhält, stehen im Zentrum der Untersuchung. Daraus resultiert ihre erkenntnisleitende Frage, wie sich PalästinenserInnen vor diesem Hintergrund der Nichtanerkennung sehen und definieren. Eingegrenzt hat sie ihre Recherchen auf 2 Generationen PalästinneserInnen., die vor ihrer Ankunft in Westeuropa selbst Flucht und Vertreibung erfahren hatten und deren Kinder, die zumeist schon hier geboren und aufgewachsen sind.

Im 2. Kapitel beschreibt Bulbeisi, dass in Deutschland vor allem in der veröffentlichten Meinung und dem mainstream der politischen Klasse eine „moralische Erzählung“ dominiert, in der Palästinenser vor allem als Terroristen und Täter dargestellt werden, die den vorgeblich einzigen „demokratischen Staat im Nahen Osten“, gefährden. Mangels grundlegender palästinensischer Literatur fußt ihre Aufarbeitung der palästinensisch-israelischen Geschichte auf den Arbeiten der neueren israelischen Historiker wie Ilan Pappe u.a., die die Vertreibungs- und Gewalterfahrungen durch die israelische Staatsgründung und die Nakba beschreiben, die in Israel sogar als Begriff verboten ist und in Deutschland schlicht ausgeblendet werden, ebenso wie die längst dokumentarisch historisch widerlegte Behauptung des offiziellen Israel, dass die Flucht der Palästinenser freiwillig und selbstverschuldet gewesen sei. Diese „Diskursive Gewalt“, wie sie es charakterisiert, hat dazu geführt, dass das zur Nichtanerkennung und gesellschaftlichem Ausschluss der Palästinenser kam.

Danach folgt im nächsten Kapitel die Diskussion der Frage wie die Palästinenser, die zwischen 1960 und 1980er Jahren nach Westeuropa und Deutschland kamen, über ihre Erlebnisse und die Nichtanerkennung ihrer Identitäten berichten und reden. Oft führte dieses Schweigen und die Verweigerung zur Entwicklung zu Gefühlen der Schuld an der eigenen Geschichte. Wobei zu bemerken wäre, dass die Palästinenser diese 1. Generation durchaus daran festhielten, Palästinenser zu sein und sich nicht verleugneten. Dieses Verhalten sei ein Rückgriff auf klassische Konzepte der palästinensischen Geschichte, bekannt als „inneren sumud“, was „Standhaftigkeit“ besagt.

Die Nichtanerkennung und Unsichtbarkeit habe verhindert, dass sich eine eigene Subjektivität entwickeln konnte, denn Gefühle der Scham, der Schuld und der Angst führte zu einer traumatischen Existenz, quasi zu einem“ Leben in Verneinung, Unsichtbarkeit und Abwesenheit“. Das würde bedeuten, „Schuld nach innen, und Selbstverneinung nach außen“. „Die Tabuisierung ihrer Sichtbarkeit“ und „eine erzwungene Selbstentfremdung“ sind die dominanten Komponenten, indem sie nicht als Gewaltbetroffene anerkannt werden, sondern Missrepräsentation und die Verzerrung der Gewalt, die sie erfahren haben.

Schließlich galt das auch noch für das Verhältnis zwischen der 1. Generation und ihren Kindern. Durch die oben beschriebene „emotionale Abwesenheit“ der Väter übertrug sich das Trauma der Väter folgerichtig auch auf die 2. Generation, denn auch diese vermisste die Anerkennung der Geschichte Palästinas, der Besatzung und Unterdrückung. Es bedurfte erst größerer öffentlicher Auseinandersetzungen wie etwa der „Gaza-Offensive“ 2014, die zu einer „Bewusstseinswerdung“ der 2. Generation führte. Durch die weiteren kriegsähnlichen Auseinandersetzungen wuchs die bewusste öffentliche Präsenz, der Widerstand und die Benennung der Besatzung als das, was es real ist, als Rassismus.

Die Autorin resümiert in einem Plädoyer, dass palästinensische Geschichte in ihren Verflechtungen als integrierten Teil der europäischen Geschichte neu zu verstehen sein sollte. Ein genauerer Blick auf die Entwicklung Israels und der Folgen für die Palästinenser und das Schicksal der geflüchteten und ausgebürgerten Palästinenser in Deutschland und der Schweiz könnte deren Geschichte nicht länger als peripher erscheint, sondern es kann diese Geschichte eine Mitverantwortung Westeuropas für deren Leidenserfahrungen anstoßen.

Ein besonderes Verdienst dieses Buche ist es, dass die im Buch bewusst verwendeten aktuell besonders kontrovers diskutierte und von Vertretern der Verteidiger der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzungspolitik und der veröffentlichten Meinung in Deutschland vehement zurückgewiesene Begriffe wie „Apartheid“ und „ Siedlerkolonialismus“ u.a., durchaus dazu beitragen, dass die palästinensischen Stimmen mehr Gehör bekommen. El Bulbeisi glaubt zu Recht, dass sie zentrale Begriffe für die politische Mobilisierung der PalästinenserInnen und ihrer Mitstreiter in der deutschen Solidaritätsbewegung sind. Das Schweigen über die realen Verhältnisse in den besetzten palästinensischen Gebieten, die Beendigung einer manichäische Weltsicht der Israelis und -die Verkehrung von Opfer und Täter-Definitionen wird nur ein Ende finden, wenn Verhältnisse als das benannt werden, als was sie sind.

Das Buch ist letztlich ein Ansatz, „palästinensische Geschichte als Teil der europäischen Geschichte“ aufzuarbeiten, und so „einen Beitrag zu einer Verflechtungsgeschichte, die letztlich erlaubt, palästinensische Geschichte als Teil der europäischen Geschichte anzuerkennen und zu betrauern“. Die Autorin resümiert, dass eine „notwendige Debatte über die Mitverantwortung Westeuropas für die palästinensische Leidens- und Unrechtserfahrung“ anstoßen könnte und die „Tabuisierung des Palästinensischseins in Deutschland“ aufheben könnte.

Dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen nicht nur in der Soli-Bewegung zu wünschen, sondern in Medien und Politik als Anstoß zum Nachdenken zur Reflexion der eigenen ideologiebesetzten Realitätsverdrängung.
Detlef Griesche