Dirk Niebel, ehemaliger Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, seit 2015 Cheflobbyist beim Panzerbauer Rheinmetall, will aus seinem Herzen keine Mördergrube, aus dem Gazastreifen aber einen Stellplatz für Wohnmobile machen: „Ich finde ja, der Gaza-Streifen gäbe einen suuuper Parkplatz am Mittelmeer“ , schrieb er auf Facebook mit Sonnenbrillen-Smiley und Heiligenschein-Smiley, um tags darauf dem Spiegel zu erklären, er stehe mit seinem Wohnmobil „immer gerne an landschaftlich reizvollen Plätzen“, und der Gazastreifen biete „alle Voraussetzungen, ein solcher privilegierter Stellplatz zu werden.“
Mit solchen Fantasien – Vernichtungsfantasien wohlgemerkt –befindet sich Herr Niebel in alter deutsch-kolonialer Tradition und in guter Gesellschaft mit der israelischen Facebook-Gruppe „Das Volk fordert Rache“, die aber noch auf den Bulldozer in passender Größe warten muss, bis das deutsch-israelische Verlangen nach Rache und einem „landschaftlich reizvollen“ Platz am Mittelmeer befriedigt werden kann.
„Rache jetzt“
Was die Facebook-Rächer wohl noch nicht begriffen haben: Die Bulldozer stehen längst bereit, werden aber erst gebraucht, wenn Gaza komplett in Trümmern liegt und der „Krieg des Lichts gegen die Dunkelheit, des Lebens gegen den Tod“ (Benjamin Netanjahu) beendet, also gewonnen ist.
Zugleich wird der mythologisch fundierte Zynismus der israelischen Regierung vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in demonstrativer Heuchelei gedeckt. Nach 8.500 getöteten und über 18.000 verwundeten Palästinensern beharrt der Sozialdemokrat immer noch darauf, Israel sei „ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten“, weshalb man sicher sein könne, „dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel.“
Gaza in „humanitären“ Trümmern
„Wo der Zweifel aufhört, beginnt die Dummheit“, soll Michel de Montaigne (1533-1592) gesagt oder geschrieben haben, doch von Dummheit kann bei Olaf Scholz vermutlich keine Rede sein, eher von Loyalität eines subalternen Partners, der sich konsequent in den Fußstapfen der USA bewegt, seitdem er energiepolitisch in selbstverschuldete Abhängigkeit zu ihr geraten ist. Wobei die genannte Heuchelei, so verwerflich und beschämend sie auch erscheinen mag, nur ein billiges und wirkungsloses Mittel ist, den in Gaza praktizierten Massenmord hinter dem Mantra von „Israels Sicherheit als Teil deutscher Staatsraison“ verschwinden zu lassen.
„Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Präzision.“ (Israels Armeesprecher Daniel Hagari)
„Wer sich über das schiere Ausmaß der Vergeltungsschläge wundert, täte gut daran, der israelischen Regierung zuzuhören, die ihre genozidalen Absichten nicht einmal versucht zu kaschieren“, schreibt Lena Obermaier am 30. Oktober 2023 in Junge Welt. „Israel bekennt sich damit zu einem Kriegsverbrechen – Unverhältnismäßigkeit – als grundlegendem Element seiner Militärstrategie. Dieses Prinzip zieht sich durch Israels Militärgeschichte wie ein roter Faden. In diesem Kontext erscheinen Hagaris Worte wie die schlechte Fortsetzung eines berühmten Satzes, den der ehemalige israelische Premierminister David Ben-Gurion bereits 1953 sagte: »Wenn wir den Arabern nicht zeigen, dass sie einen hohen Preis für die Ermordung der Juden zahlen müssen, werden wir nicht überleben.« Diese Disproportionalität zeigt sich in der Entwertung palästinensischen Lebens: von der ethnischen Säuberung Palästinas (1947–1949) über die Erste Intifada (1987–1993) bis hin zu den massenhaften Verstümmelungen palästinensischer Demonstranten während des »Great March of Return« in Gaza (2018–2019).“
„Du sollst die Erinnerung an Amalek austilgen unter dem Himmel!“
Unterdessen inszeniert sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als Reinkarnation des biblischen Josua, dem es der Legende nach gelang, den mythologischen Erzfeind der Israeliten, das Volk der Amalekiter, zu besiegen. So bezog sich der Premier am 28. Oktober 2023 bei einer Pressekonferenz auf die Thora, als er die israelischen Nation ermahnte, „sich daran zu erinnern, was die Amalekiter den Israeliten angetan haben“, ohne allerdings das göttliche Gebot zu erwähnen, „die Erinnerung an Amalek aus(zu)tilgen unter dem Himmel.“Josua besiegt die Amalekiter (Exodus 17, 8-16) Illustration von Phillip Medhurst
Wer oder was da ausgetilgt oder ausgerottet werden soll, ist allen klar, es ist der Stamm des Amalek in seiner modernen palästinensischen Version, die Verkörperung des Bösen schlechthin, die von Israels Staatspräsidenten Isaak Herzog in kollektive Haftung für die Verbrechen der Hamas genommen wird: „Es ist eine ganze Nation da draußen, die verantwortlich ist. Es ist nicht wahr, dass Zivilisten nichts davon wussten und nicht beteiligt waren. Das ist absolut nicht wahr!“
Wo sich aber der höchste Repräsentant des Staates Israel als Schreibtischterrorist gebärden kann, dürfen auch die üblichen Verdächtigen nicht fehlen. Zum Beispiel der ehemalige Knesset-Abgeordnete Mosche Feiglin, langjähriges Mitglied der Likut und zentraler Akteur der Proteste gegen die Oslo-Friedensabkommen in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts, ein Mann, der sich mit drastischen Vergleichen als Einpeitscher zu profilieren weiß:
„Ein Haar auf dem Kopf eines israelischen Soldaten ist kostbarer als die ganze Bevölkerung von Gaza, die Hamas gewählt hat!“ (Moshe Feiglin am 24. Juli 2014 auf Facebook)
„We still have not revenged in a biblical way… we did not burn Gaza to ashes immediately. Create a tremendous humanity crisis. Level the entire area. Do not leave a stone upon stone in Gaza. Gaza needs to turn to Dresden. Annihilate Gaza now!“
(Moshe Feglin, Oktober 2023 im Israelischen Fernsehen)
„Wir haben uns bisher noch nicht auf biblische Weise gerächt … wir haben Gaza nicht sofort in Schutt und Asche gelegt. Führt eine gewaltige Menschheitskrise herbei. Planiert die gesamte Fläche. Lasst nicht einen Stein auf dem anderen in Gaza. Gaza muss sich in Dresden verwandeln. Vernichtet Gaza jetzt!“
Hardliner wie Moshe Feiglin kommen in den deutschen Medien nicht zu Wort, sie könnten ja das Narrativ von Israel als dem „einzigen demokratischen Staat im Nahen Osten“ oder die Legende von der israelischen Armee als der „moralischsten Armee der Welt“ so empfindlich stören, wie es der deutsch-jüdische Neuropsychologe Rolf Verleger am 15. Januar 2019 in der Frankfurter Rundschau unter dem Titel „Israels Unrecht auf geraubtem Land“ getan hat:
„Seit 2005 ist Gaza ein großes Gefängnis; Israel hat es verriegelt, Ägypten bewacht den Hinterausgang. Israel erlaubt Ein- und Ausfuhren nur insoweit, dass niemand verhungert. Boote dürfen nur bis drei Meilen vor die Küste fahren, den EU-finanzierten Flughafen hat Israel zerbombt. Das hat die bescheidene Industrie und Landwirtschaft ruiniert. Womit sollen sich also die Einwohner beschäftigen? Ist es so erstaunlich, dass sie Tunnel bauen, um die Gefängnismauern zu durchlöchern? Ist es so erstaunlich, dass sie versuchen, ihren Gefängniswärtern zu schaden?
Das geschieht auf dem Hintergrund, dass die meisten Bewohner des Gazastreifens Nachkommen von Vertriebenen sind: Leute, die von ihren Häusern in Jaffa seit 1948 nur noch den Schlüssel haben, Menschen aus Aschkalon, die noch in den 50er Jahren eingesammelt und per Lastwagen nach Gaza deportiert wurden.
Als Weltbürger im schicken Tel Aviv würde man gerne in Frieden leben, aber die Universität ist auf den Trümmern eines vertriebenen Dorfs errichtet und die schönen arabischen Häuser in Jaffa wurden mit Gewalt ihren Vorbesitzern weggenommen. Hat Israel je ernsthaft versucht, die Palästinenser um Verzeihung zu bitten? Ist es so erstaunlich, dass Israel auf geraubtem Land nicht in Frieden leben kann?
Vor kurzem sind die Friedensverhandlungen von US-Außenminister John Kerry gescheitert. Dafür verantwortlich war laut Kerry Israel, weil es fortgesetzt Land im Westjordanland annektierte („Siedlungsbau“) und die Zusage nicht einhielt, Gefangene freizulassen. Daraufhin bildeten die zerstrittenen Parteien Fatah und Hamas eine Einheitsregierung. Dies wurde von EU und USA begrüßt, aber Israels Premier Benjamin Netanjahu erklärte, dies nicht zu dulden. Er benutzte die bis heute unaufgeklärte Ermordung dreier Siedler-Jugendlicher, um Hunderte Hamas-Mitglieder zu verhaften; mehrere Palästinenser wurden vor und nach diesen Morden von Israels Polizei und Armee umgebracht. Ist es so erstaunlich, dass die Hamas dann wieder begann, ihre Rohrgeschosse und Raketen abzufeuern?
Als die israelische Attacke begann, war durch diese Raketen aktuell glücklicherweise noch kein Mensch zu Schaden gekommen. Trotzdem startete Israel diese Kampagne und hat nun bereits 1000 Gaza-Bewohner vom Leben zum Tod befördert. Das ist ein Massaker.
Das zweite Massaker in fünf Jahren
Manche Leute äußern Verwunderung, warum Deutsche gegen dieses Massaker – das zweite in fünf Jahren – auf die Straße gehen. Warum nicht gegen Putin, Syrien, Nigeria? Nun, die Antwort ist einfach: Weil wir – zu Recht oder zu Unrecht – das Gefühl haben, dass deutsche Politiker und Medien mit diesen anderen Konflikten nicht viel zu tun haben oder neue Gesichtspunkte wenigstens zur Kenntnis nehmen. Diesen Eindruck kann man bei den Äußerungen der Spitzenpolitiker zu Gaza nicht haben. Sie wiederholen mantra-artig, Israels Attacke sei gerechtfertigt, denn jeder Staat habe das Recht, sich gegen terroristische Attacken zu verteidigen. Dagegen richtet sich unser Protest: Wir wollen, dass unsere Politiker Vernunft annehmen.“
Rolf Verleger
Rolf Verleger, geboren 1951 in Ravensburg, gestorben 2021 in Lübeck,, war Professor an der Universität zu Lübeck und Mitglied des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Unter dem Eindruck des Libanonkriegs im Sommer 2006 äußerte er sich als Vertreter des Zentralrats kritisch zu den „militärischen Maßnahmen der israelischen Regierung gegen den Libanon“ und zu der Israel unterstützenden Haltung des Zentralrats hierzu.
Dies brachte ihm von Seiten der Zentralratsvorsitzenden Charlotte Knobloch und anderer Repräsentanten jüdischer Organisationen Kritik ein. Zentralratsgeneralsekretär Stephan Kramer nannte die Position Verlegers „abstrus“ und eine „absolute Einzelmeinung“. Verleger bediene sich „antiisraelischer Klischees, die durch keine sachlichen Argumente belegt sind“.
Im August 2006 verlor er als Reaktion auf seine Äußerungen sein Amt als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Lübeck und sein Mandat als Delegierter für das Zentralratsdirektorium.
2016 gründete Verleger gemeinsam mit Yazid Shammout, dem Vorsitzenden der palästinensischen Gemeinde in Hannover, das „Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung“, das heutige „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“.
Das „BÜNDNIS FÜR GERECHTIGKEIT ZWISCHEN ISRAELIS UND PALÄSTINENSERN“ (BIP) gibt einen wöchentlichen Newsletter heraus, zu bestellen über die Website bip-jetzt.de oder per Mail über info@bip-jetzt.de.
Bernd Fischer