Sie essen Gras in Gaza. Wissen die Menschen das nicht in Tel Aviv?

Hier ein Brief von Nirit Sommerfeld, der vielleicht dazu beiträgt zu verstehen, dass in Israel die unvorstellbaren Grausamkeiten, die israelische Soldaten und Soldatinnen in Gaza bis auf den heutigen Tag begehen, geduldet, akzeptiert, unterstützt, begrüßt werden. Und nur von einem ganz kleinen Teil der israelischen Gesellschaft abgelehnt werden. Wer Nirit Sommerfeld nicht kennt: sie ist eine israelische Künstlerin (Sängerin, Texterin, Komponistin), die in Deutschland lebt und sich „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“ engagiert. Hier der erste Teil ihres langen Briefes. Der ganze Brief hier.


Israelis verstehen

Sie, die überlebt haben, sind aus dem Norden geflohen, wenn sie noch gehen konnten. Sie sind weiter nach Süden gezogen, wenn sie noch Beine und Arme hatten, und haben diejenigen getragen, deren Gliedmaßen oft ohne Narkose und Schmerzmittel amputiert wurden. Ihnen wurde eine safe zone versprochen, aber in Wahrheit sind sie nirgendwo sicher. Ihnen wurden auch andere Versprechungen gemacht: dass kein Stein auf dem anderen bliebe, dass man sie ausmerzen würde, vernichten und vertreiben wie Tiere, ihnen Treibstoff für ihre Generatoren entziehen, ihnen den Zugang zu Lebensmittel und Wasser verweigern. Diese Versprechen werden gehalten.

Das Internet ist voll von Berichten und Videos von nicht enden wollenden schweren Bombenangriffen auf Gaza und ihre verheerenden Folgen. Seit dem 7. Oktober sind dort über 36.000 Menschen getötet worden, wenn man die rund 8.000 dazu zählt, die als „vermisst“ gelten und die vermutlich verletzt unter Schutt auf ihren langsamen Tod warten oder mittlerweile verwesen. Dazu kommen an die 70.000 Verletzte, denen von einstmals 36 Krankenhäusern keines mehr voll funktionsfähig zur Verfügung steht. Wer nicht tot oder verwundet ist, hat sein Zuhause, Freunde und Verwandte verloren, leidet Hunger und ist auf der Flucht innerhalb des eigenen Gefängnisses. Das betrifft etwa 90% aller Menschen in Gaza. Fast zwei Millionen Menschen. Über die Hälfte von ihnen Kinder. In Gaza droht die weltweit größte Hungerkatastrophe, bereits jetzt sind neun von zehn Kindern unterernährt. Krankheiten grassieren, vor Epidemien wird gewarnt.

Am 10. Februar 2024 hat Benjamin Netanyahu die Evakuierung von 1,4 Millionen Menschen aus Rafah, dem südlichen Gazastreifen, angeordnet. Evakuierung bedeutet: in die Wüste schicken. Auf die ägyptische Sinai-Halbinsel. Anderthalb Millionen Menschen, die innerhalb des Gazastreifens bereits mehrfach vertrieben wurden, nachdem ihre Vorfahren 1947/48 bereits als Vertriebene aus den umliegenden Dörfern dorthin deportiert wurden.

Die Mehrheit der Weltgemeinschaft ist darüber entsetzt. Das zeigt eine Abstimmung in den Vereinten Nationen zu einem sofortigen Waffenstillstand, bei der 153 Länder dafür stimmten, 10 dagegen. 23 Länder enthielten sich, darunter auch Deutschland. In Deutschland geht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung sicher nicht konform mit der Meinung der deutschen (= israelischen) Regierung und der allermeisten Medien, die immer noch vom „Recht Israels auf Selbstverteidigung“ schwadronieren. Aber was denken Israelis? Steht wirklich die Mehrheit der jüdischen Israelis hinter dem Regierungskurs des „Krieg bis zum totalen Sieg (Öffnet in neuem Fenster)“?

Die allermeisten Israelis wissen nicht, was in Gaza derzeit wirklich passiert. Klingt nicht plausibel, ist aber so. Die allermeisten Israelis sehen den ganzen Tag fern oder lesen, wie viele andere Leute auch, die Schlagzeilen in den Sozialen Medien, so wie der Algorithmus es ihnen vorgibt. Hier wie dort erfahren sie, dass ganz Gaza bevölkert ist von Terroristen; manche von ihnen würden Zivilisten, Krankenhäuser und UN-Einrichtungen für ihre terroristischen Zwecke missbrauchen. Ihr einziger Lebenszweck sei es, Juden, vor allem israelische, zu vernichten. Diese Sichtweise basiert auf jahrzehntelang gelieferten Informationen, die Israelis durch Medien und Regierung, aber auch in Schulen und bei den meisten sozialen Interaktionen angeboten werden. Dabei lernen sie, dass Araber (von Palästinensern ist eigentlich nie die Rede) Juden hassen, wir wiederum sie hassen und dass sich daran niemals etwas ändern werde. Sie lernen, dass Araber ungebildet seien, immer nur Hass und Rache im Schilde führen, keine eigene Kultur kennen und nicht mal ihre Kinder so sehr lieben, wie sie uns hassen. Das hatte Golda Meir uns schon vor über 50 Jahren gelehrt, das führte sie als Begründung dafür an, dass es niemals Frieden mit den Arabern geben werde, solange sie uns mehr hassen als ihre Kinder zu lieben.

Der Schock des 7. Oktober hat sämtliche Traumata der jüdischen Israelis aktiviert. Zweifels ohne steckt in uns allen die generationenübergreifende Erinnerung an Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung. Zweifels ohne gab es darüberhinaus in den vergangenen 75 Jahren seit Staatsgründung für jüdische Israelis dramatische und traumatische Erlebnisse von Gewalt, sei es bei den zahllosen Kriegen und Militäreinsätzen oder bei Terroranschlägen auf zivile Ziele. Dabei haben alle israelischen Regierungen immer dafür gesorgt, dass zwei Grundsätze im israelischen Bewusstsein manifestiert wurden:
1. Wir sind immer die Opfer, die angegriffen werden.
2. Es gibt weder einen historischen Kontext noch jedwede Rechtfertigung für Gewaltausbrüche; sie werden ausschließlich aus Hass gegen uns entfacht.

Die grausamen, in diesem Ausmaß nie da gewesenen Gewalttaten der Hamaskämpfer am 7. Oktober haben diese Grundannahmen bestätigt. Israelis haben den realen Schmerz, den ganz Israel kollektiv erfasst hat, auch individuell wirklich empfunden. Ohne Ausnahme kennt jede und jeder Israeli jemanden, der direkt von den Angriffen am 7. Oktober betroffen war. Sämtliche regierungsnahen Medien — und bis auf die Tageszeitung Haaretz sind sämtliche Medien regierungsnah — haben ununterbrochen dafür gesorgt, dass grausame Bilder des Horrors israelische Wohnzimmer, Tablets und Handys erreichten. Dazu gehörten auch Nachrichten von enthaupteten Babys, die im Nachhinein zweifelsfrei als Falschmeldungen identifiziert wurden, aber bis heute in den Köpfen der Menschen stecken. Diese Nachrichten- und Bilderflut blieb nicht ohne Effekt. Selbst offene, liberale, progressive Israelis sind bis heute, vier Monate danach, nicht in der Lage, die Situation mit etwas Abstand zu betrachten. Kaum jemand ist bereit, in anderen Medien, sprich dem Internet, nach Informationen zu suchen, die ein anderes Bild von Gaza erzeugen könnten als das einer dunklen kollektiven Terrorzelle.
[…] Der ganze Brief hier

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