Scholz erklärt sich zur Kooperation mit „den neuen Machthabern“ in Syrien bereit. In Idlib, wo diese bislang herrschten, haben Frauen kein Wahl- und Christen kein Bürgerrecht, Folter und Verschwindenlassen sind verbreitet.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklären sich „bereit“, mit „den neuen Machthabern“ in Syrien „zusammenzuarbeiten“. Dies betonten beide in einem Telefongespräch, das sie am Montag abend führten. Demnach solle die Kooperation „auf der Basis grundlegender Menschenrechte“ sowie des „Schutz[es] ethnischer und religiöser Minderheiten“ geschehen. Als neuer „starker Mann in Syrien“ gilt allgemein Abu Muhammad al Julani, der Anführer von Hayat Tahrir al Sham (HTS), einer Jihadistenorganisation, die bisher das Gouvernement Idlib beherrschte. Dort haben lediglich eigens ausgesuchte Männer Wahlrecht, Frauen nicht. Christen haben beschränkte Rechte, Alawiten und Drusen gelten als vom Islam abgefallen und werden verfolgt. Folter ist üblich, Dutzende Fälle von „verschwundenen“ Personen sind dokumentiert. HTS gegenüber kritische Journalisten wurden von HTS-Aktivisten ermordet. Kindern wird der „Weg zum Märtyrertum“ empfohlen. Der bisherige Ministerpräsident in Idlib ist zum Ministerpräsidenten der syrischen Übergangsregierung ernannt worden. Deutsche Politiker dringen auf schnelle Abschiebungen nach Syrien.
Syriens „neuer starker Mann“
Abu Muhammad al Julani, geboren 1982 in Riad als Ahmed al Sharaa, wuchs ab 1989 in Mezzeh, einem relativ wohlhabenden Vorort von Damaskus, auf. Im Jahr 2003 ging er in den Irak, gliederte sich in die dortigen Al Qaida-Strukturen ein und beteiligte sich am Kampf gegen die US-Streitkräfte, bis er von diesen unter anderem in Camp Bucca bei der irakischen Hafenstadt Umm Qasr interniert wurde.[1] Im Jahr 2008 wieder freigekommen, wurde er für den Islamischen Staat im Irak (ISI) aktiv, der ihn im August 2011 nach Syrien schickte. Dort baute er die Jihadistenorganisation Jabhat al Nusra auf. Diese entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einer der mächtigsten jihadistischen Organisationen in Syrien, verübte zahlreiche Terroranschläge, sagte sich im April 2013, um sich eine stärkere Autonomie zu sichern, vom ISI los und unterstellte sich Al Qaida. Weiterhin unter Julanis Führung stehend, benannte sie sich im Juli 2016, nun auch mit Al Qaida brechend, in Jabhat Fatah al Sham um. Im Januar 2017 schloss sich die Organisation mit anderen zu Hayat Tahrir al Sham (Komitee zur Befreiung der Levante, HTS) zusammen. HTS gelang es schließlich, im Gouvernement Idlib die Macht an sich zu reißen. Idlib war die letzte Hochburg der Aufständischen, die die syrischen Streitkräfte nie erobern konnten – dies dank starker Unterstützung für HTS aus der Türkei.
„Auf dem Weg zum Märtyrertum“
Ideologisch hat HTS ihre alte jihadistische Orientierung gewahrt. Allerdings verzichtet die Organisation darauf, Terroranschläge im Westen zu organisieren; sie konzentriert sich auf den Aufbau einer nach ihren Zielen modellierten Gesellschaft. Im Mai 2020 etwa, dies berichtete Aaron Y. Zelin von The Washington Institute for Near East Policy in einer vor zwei Jahren publizierten Studie, erklärte Julani anlässlich des Feiertags Eid al Fitr vor einer Gruppe von Kindern: „Wir sind alle auf dem Weg zum Märtyrertum.“[2] Anschließend schenkte er einem kleinen Kind eine Spielzeugpistole. HTS ging in Idlib stets systematisch gegen den mit ihr rivalisierenden Islamischen Staat (IS) vor, ließ jedoch andere Jihadistengruppen gewähren, so etwa Jamaat Ansar al Islam, Katibat Imam al Bukhari und Katibat al Tawhid wal Jihad. HTS selbst führte zudem stets den Krieg gegen die syrischen Streitkräfte fort; dabei beschossen Milizionäre der Organisation zivile Wohngebiete in Gebieten, die von der Regierung in Damaskus kontrolliert wurden, mit Raketen. HTS hat zudem Kinder gezwungen, militärische Ausbildung in ihren Trainingslagern zu durchlaufen, um Kindersoldaten zu werden. Die Organisation finanziert sich, indem sie in Idlib unter anderem Teile der Finanz-, der Energie- und der Telekombranche und das Grenzmanagement kontrolliert.
Frauen ohne Rechte
Auch die Regierung in Idlib, die seit 2017 unter dem Namen Syrian Salvation Government (SSG) firmiert, wird faktisch von HTS unter Julani geführt. Zwar werden Minister sowie die Mitglieder eines beratenden Gremiums, des Shura Council, gewählt; allerdings werden die Kandidaten vorher gezielt von der Regierung ausgesucht. Ausschließlich Männer, die dazu für würdig erachtet werden, dürfen wählen; Frauen wird das Wahlrecht vorenthalten. Zudem sind Frauen harten Restriktionen ausgesetzt; in einem Bericht des UN-Menschenrechtsrats sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Frauen festgenommen wurden, weil sie sich angeblich unangemessen gekleidet hatten oder weil sie sich ohne einen verwandten Mann in der Öffentlichkeit bewegten.[3] Christen, so beschreibt es Zelin in seiner Studie, erhalten einen Status (mustamin) mit minderen Rechten, der Nichtmuslimen zukommt, die sich in islamischem Gebiet aufhalten. Alawiten und Drusen gelten als vom Islam Abgefallene. Während HTS schon bis 2022 mindestens 550 Immobilien beschlagnahmt hatte, die zuvor Christen gehört hatten, wurden zahlreiche Drusen zwangsweise zum Islam konvertiert. Eine Organisation uigurischer Jihadisten, Katibat al Ghuraba al Turkestan, ist laut Zelin dafür berüchtigt, dass sie nicht nur Drusen gehörende Immobilien okkupiert hat, sondern Drusen auch offen misshandelt.[4]
Folter und Mord
Kritische Äußerungen über HTS sind im Gouvernement Idlib unerwünscht. So wies der UN-Menschenrechtsrat in seinem erwähnten Bericht auf zahlreiche Fälle willkürlich inhaftierter Aktivisten und Journalisten hin; darüber hinaus identifizierte er 64 Personen, die HTS „verschwinden“ lassen hatte.[5] Im November 2018 ermordeten HTS-Mitglieder zwei oppositionelle Journalisten. Ein Rechtsanwalt aus Idlib erzählte Zelin: „Todesurteile werden in Geheimgefängnissen ohne Gerichtsverfahren vollstreckt.“ Dem UN-Menschenrechtsrat zufolge werden Einwohner des Gouvernements, die die Auffassungen von HTS nicht teilen, regelmäßig in Hafteinrichtungen gefoltert. Dabei werden sie verprügelt, in enge Kisten („Särge“) gesteckt oder – zuweilen tagelang – an ihren Gliedmaßen aufgehängt; belegt ist auch, dass Inhaftierten die Fingernägel ausgerissen oder Arme und Beine gebrochen wurden. Männliche Gefangene berichteten, sie seien sexuell misshandelt, mit Stromschlägen an ihren Genitalien malträtiert oder vergewaltigt worden; auch Fälle von Vergewaltigungen von Frauen in HTS-Hafteinrichtungen sind dokumentiert. Zelin hielt bilanzierend trocken fest, es ergebe sich mit Blick auf all dies für Politiker in Washington die Frage, „ob sie darüber hinwegsehen sollten, wie sie es mit ihren Verbündeten in der Region tun“.[6]
„Moderat und versöhnlich“
Die Frage stellt sich heute mehr denn je. Nicht nur, dass HTS-Kämpfer aktuell in Damaskus patrouillieren, um die Lage dort zu stabilisieren. Der seit Januar amtierende Ministerpräsident des HTS-kontrollierten Syrian Salvation Government in Idlib, Muhammad al Bashir, ist am Dienstag zum Ministerpräsidenten der neuen syrischen Übergangsregierung ernannt worden. Zudem gilt HTS-Anführer Julani als führender Kopf und als entscheidender Drahtzieher im Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Damaskus; von Syriens „neuem starken Mann“ ist die Rede. Julanis Entwicklung vom Mitglied des ISI zum eigentlichen Machthaber des Gouvernements Idlib wird im öffentlich-rechtlichen ZDF als „Wandel … vom Dschihadisten zum moderaten und versöhnlichen Kämpfer“ beschrieben.[7]
Bereit zur Zusammenarbeit
Berlin reagiert auf doppelte Weise. Zum einen erklärte sich Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Telefongespräch mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereit, „mit den neuen Machthabern“ in Syrien „zusammenzuarbeiten“; dies solle „auf der Basis grundlegender Menschenrechte“ und des „Schutz[es] ethnischer und religiöser Minderheiten“ geschehen.[8] Zum anderen dringen Politiker der Unionsparteien darauf, nun rasch Rückführungen nach Syrien zu starten. So fragte Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn, heute stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag: „Wie wäre es, wenn die Bundesregierung sagt: Jeder, der zurück will nach Syrien, für den chartern wir Maschinen, der bekommt ein Startgeld von 1.000 Euro“.[9] Bayerns Ministerpräsident Markus Söder drang darauf, nun zu überlegen, „wie eine stärkere Rückführung“ machbar sei.[10] Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) erklärte: „Wir haben ein hohes Interesse, Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückzuführen, freiwillig oder im Rahmen von Abschiebungen.“[11] Dies bezog sich unmittelbar auf Syrien nach dem Siegeszug der HTS.
Mehr zum Thema: Umwälzungen in Syrien (I).
[1] Charles R. Lister: The Syrian Jihad. Al-Qaeda, the Islamic State and the Evolution of an Insurgency. London 2015.
[2] Aaron Y. Zelin: The Age of Political Jihadism. A Study of Hayat Tahrir al Sham. The Washington Institute for Near East Policy. Washington, May 2022.
[3] United Nations Human Rights Council: Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic. 11.03.2021.
[4] Aaron Y. Zelin: The Age of Political Jihadism. A Study of Hayat Tahrir al Sham. The Washington Institute for Near East Policy. Washington, May 2022.
[5] United Nations Human Rights Council: Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic. 11.03.2021.
[6] Aaron Y. Zelin: The Age of Political Jihadism. A Study of Hayat Tahrir al Sham. The Washington Institute for Near East Policy. Washington, May 2022.
[7] „Er nutzt eine Sprache der Versöhnung und Toleranz“. zdf.de 08.12.2024.
[8] Bundeskanzler Scholz telefoniert mit dem französischen Staatspräsidenten Macron. bundesregierung.de 09.12.2024.
[9] Opposition dringt auf rasche Beschlüsse über Flüchtlinge. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.12.2024.
[10] Neue Töne aus der Union zu Syrien-Rückkehrern. tagesschau.de 10.12.2024.
[11] Sonja Süß: Kritik an Posecks Vorstoß zu Syrien-Abschiebungen. hessenschau.de 10.12.2024.