Umwälzungen in Syrien (III)

Berlin dringt auf starke deutsche Rolle in Syrien. Baerbock schlägt „Gruppe der Freunde Syriens“ unter Beteiligung des Westens und unter Ausschluss Russlands und Irans vor. Mit den Jihadisten von HTS soll kooperiert werden.

13. Dezember 2024

Die Bundesregierung dringt auf eine starke deutsche Rolle bei der Neugestaltung der staatlichen Verhältnisse in Syrien und kündigt dazu eine engere Kooperation mit den Jihadisten von Hayat Tahrir al Sham (HTS) an. Wie Außenministerin Annalena Baerbock erklärt, sei HTS „de facto die neue starke Macht in Syrien“; man müsse deshalb mit ihr in einem „pragmatischen Ansatz“ kooperieren. „Wir als Europäer, als Deutschland“ müssten jetzt „unsere Verantwortung sehen, zur Stabilisierung der Region beizutragen“, verlangt Verteidigungsminister Boris Pistorius. Damit beteiligt sich die Bundesregierung am erbitterten Kampf äußerer Mächte um die Kontrolle über Syrien, der nach dem Umsturz dort längst eingesetzt hat. Um prägenden Einfluss in Damaskus sind unter anderem zwei NATO-Staaten und einer der engsten Verbündeten Deutschlands bemüht, die jeweils Teile Syriens völkerrechtswidrig okkupiert haben sowie auch nach Assads Sturz weite Teile des Landes beschießen – die Türkei, die USA und Israel. Das Land wird damit erneut zum Spielball äußerer Mächte aus der westlichen Welt, deren vorrangiges Ziel darin besteht, ihre Rivalen zu entmachten – Russland und Iran.

Dramatischer Einflussverlust

Der erbitterte Kampf äußerer Mächte um die Kontrolle über Syrien nach dem Sturz von Bashar al Assad hat längst begonnen. Schlechte Aussichten haben dabei nach aktuellem Stand die zwei Staaten, die Assad maßgeblich unterstützt hatten – Russland und Iran. Als Symbol für Irans Einflussverlust kann gelten, dass die iranische Botschaft in Damaskus nach Assads Flucht angegriffen, geplündert und verwüstet wurde. Berichten zufolge ist Teheran zur Zeit bemüht, neue Gesprächskanäle in die syrische Hauptstadt aufzutun, um sich wenigstens einen gewissen Einfluss bei den neuen Machthabern dort zu sichern.[1] Der Erfolg des Vorhabens ist äußerst ungewiss. Russland wiederum droht der Verlust zweier Militärstützpunkte in Syrien – des Luftwaffenstützpunkts Hmeimim bei Latakia, den es seit 2015 nutzt, vor allem aber der Marinebasis in Tartus, die schon die Sowjetunion im Jahr 1971 errichtete. Sie hat für Moskau eine zentrale Bedeutung bei seiner Machtprojektion im östlichen Mittelmeer und in Nah- und Mittelost. Die Bewegungen in Tartus werden im Westen genau beobachtet; am Mittwoch etwa hieß es, sämtliche russischen Kriegsschiffe hätten die Marinebasis inzwischen verlassen und kreuzten nun im Mittelmeer.[2] Was das konkret bedeutet, blieb offen.

Die „Türkisierung“ Nordsyriens

Mehrere Staaten haben syrisches Territorium besetzt, halten daran fest und suchen das von ihnen kontrollierte Gebiet zum Teil sogar noch auszuweiten. Dies gilt zunächst für die Türkei. Ankara hat seit 2016 in mehreren Wellen Teile Nordsyriens militärisch erobert und hält an ihrer Besetzung bis heute fest. Bereits seit Jahren ist bekannt, dass die betroffenen Gebiete an die türkische Infrastruktur angeschlossen und von türkischen Behörden kontrolliert werden; Experten sprachen schon im Jahr 2019 von einer gezielten „Türkisierung“ der Region.[3] Zur Zeit ist die von der Türkei abhängige Syrian National Army (SNA) damit befasst, weitere Teile Nordsyriens zu erobern und die Syrian Democratic Forces (SDF), die von kurdischen Kräften geführt werden, zu vertreiben. Dabei werden den Milizionären der SNA, die sich aus zahlreichen einzelnen Milizen zusammensetzt, gravierende Verbrechen vor allem an Kurden vorgeworfen.[4] In den vergangenen Tagen gelang es der SNA, die Städte Tall Rifaat im Norden von Aleppo und Manbij westlich des Euphrat einzunehmen.[5] Aktuell zielt sie auf Kobane, eine Stadt östlich des Euphrat, die international bekannt wurde, als kurdische Kräfte sie einstmals gegen den IS verteidigten.[6] Dabei stellt Ankara der SNA Luftunterstützung durch türkische Kampfflugzeuge und Drohnen zur Verfügung.

Bombardements ohne Ende

Teile Syriens besetzt halten auch die Vereinigten Staaten und Israel. Die USA haben rund 900 Soldaten im Nordosten des Landes stationiert und dabei bislang die SNA genutzt, um der syrischen Regierung den Zugang nicht zuletzt zu den dort gelegenen Ölfeldern zu verwehren. Dies hat Damaskus gezwungen, Öl in Iran zu erwerben, und zu erheblichen ökonomischen Schäden geführt. In den vergangenen Tagen haben die US-Streitkräfte zahlreiche Luftangriffe auf syrische Ziele durchgeführt; bereits am Dienstag hieß es, man habe 75 Ziele attackiert, angeblich Stellungen des IS.[7] Israel wiederum hält schon seit 1967 die Golanhöhen besetzt, die es 1981 völkerrechtswidrig annektiert hat; lediglich die Vereinigten Staaten erkannten die Annexion am 25. März 2019 unter Präsident Donald Trump an. Jetzt ist es noch weiter auf syrisches Territorium vorgerückt und steht Berichten zufolge inzwischen in Qatana – rund 20 Kilometer südwestlich von Damaskus.[8] Seine Luftangriffe auf Ziele in Syrien – Berichten zufolge waren es bereits vor dem Beginn der HTS-Offensive ein bis zwei Dutzend pro Tag – hat es seit dem Umsturz in Damaskus ausgeweitet und allein bis Dienstag laut Eigenangaben 480 Attacken durchgeführt; dabei hat es große Teile der militärischen Infrastruktur, Gebäude der Geheimdienste und allerlei weitere Einrichtungen zerstört. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärt dazu: „Wir verändern das Aussehen des Nahen Ostens.“[9]

„Gruppe der Freunde Syriens“

Während die Türkei, die Vereinigten Staaten und Israel syrisches Territorium illegal besetzt halten und Syrien ohne jegliche völkerrechtliche Grundlage mit massiven Bombenangriffen überziehen, laufen international die Bemühungen auf Hochtouren, die Jihadisten von Hayat Tahrir al Sham (HTS) [10], die aktuell als stärkste Kraft in Syrien gelten, auf die jeweils eigene Seite zu ziehen. Daran beteiligt sich auch die Bundesrepublik. Bereits am Dienstag abend hatte Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt, man sei bereit, „mit den neuen Machthabern“ in Syrien „zusammenzuarbeiten“.[11] Am Mittwoch kündigte Außenministerin Annalena Baerbock einen Acht-Punkte-Plan an, der den Rahmen für die weitere Entwicklung Syriens abstecken soll. Demnach müsse „eine friedliche und geordnete Machtübergabe … an eine zivile Regierung mit breiter Legitimität“ erreicht werden. Anzustreben seien unter anderem eine Integration der Milizen in „eine nationale Armee“ sowie „freie und demokratische Wahlen“.[12] Zu etablieren sei „eine neue Gruppe der Freunde Syriens“, zu der – neben den Nachbarstaaten und anderen arabischen Ländern – „westliche Geberländer“ gehören sollten. HTS sei „de facto die neue starke Macht in Syrien“; mit ihr müsse man daher in einem „pragmatischen Ansatz“ kooperieren.

Eine „Chance“ für HTS

Ähnlich hat sich Verteidigungsminister Boris Pistorius geäußert, der in den vergangenen beiden Tagen die in Jordanien (Al Azraq) und Irak (Bagdad, Erbil) stationierten deutschen Truppen besuchte. Pistorius erklärte, man müsse der HTS „eine Chance geben, das zu tun, worauf es jetzt ankommt“; gleichzeitig müsse man „mit anderen europäischen Partnern bereitstehen“, zur Regelung der Verhältnisse in Syrien „Beiträge zu leisten“.[13] „Wir als Europäer, als Deutschland“, verlangte der Verteidigungsminister, müssten jetzt „unsere Verantwortung sehen, zur Stabilisierung der Region beizutragen“.[14] Pistorius setzt dazu darauf, zunächst die deutsche Militärpräsenz in Syriens Nachbarländern Jordanien und Irak zu konsolidieren und womöglich auszubauen. Für die Präsenz auswärtiger Truppen im Irak haben Washington und Bagdad sich Ende September darauf geeinigt, die multinationale Operation Inherent Resolve („Anti-IS-Einsatz“) zu beenden und sie durch bilaterale Vereinbarungen zur Militärkooperation zu ersetzen.[15] Dies zieht nun auch Pistorius für Deutschland in Betracht. Mit Blick auf den Luftwaffenstützpunkt bei Al Azraq ist bereits davon die Rede, man könne die dortige Stationierung deutscher Militärflugzeuge auf lange Sicht zementieren.[16] Al Azraq gilt als mögliches Drehkreuz für Einsätze auch auf dem afrikanischen Kontinent; es wurde bereits für einen Evakuierungseinsatz in Sudan genutzt.

 

Mehr zum Thema: Umwälzungen in Syrien (I) und Umwälzungen in Syrien (II).

 

[1] Iran says it is in direct contact with groups in Syria’s new leadership. timesofisrael.com 09.12.2024.

[2] Christiaan Triebert, Riley Mellen: Russian Military and Commercial Activity Halted at Key Syrian Port. nytimes.com 11.12.2024.

[3] S. dazu Erdoğan in Berlin und Die Invasionsmacht als Partner.

[4] Rayhan Uddin: The Syrian National Army: Rebels, thugs or Turkish proxies? middleeasteye.net 07.12.2024.

[5] Ghazal Golshiri, Marie Jégo: En Syrie, la Turquie veut étendre la zone tampon en repoussant les forces kurdes. lemonde.fr 11.12.2024.

[6] S. dazu Das Spiel mit dem Terror.

[7] U.S. airstrikes in Syria meant to prevent Islamic State from taking power in leadership void. pbs.org 10.12.2024.

[8] Israel establishes ‘sterile defence zone’ inside Syrian territory as it continues air strikes. middleeasteye.net 10.12.2024.

[9] Mick Krever: Israel strikes Syria 480 times and seizes territory as Netanyahu pledges to change face of the Middle East. edition.cnn.com 11.12.2024.

[10] S. dazu Umwälzungen in Syrien (II).

[11] Bundeskanzler Scholz telefoniert mit dem französischen Staatspräsidenten Macron. bundesregierung.de 09.12.2024.

[12] Severin Weiland: So will Baerbock den Friedensprozess in Syrien begleiten. spiegel.de 12.12.2024.

[13] „Wir müssen mehr machen“. tagesschau.de 11.12.2024.

[14] Ines Trams: Pistorius wirbt für mehr Einsatz Deutschlands. zdf.de 12.12.2024.

[15] Frank Specht: Pistorius verspricht Hilfe zur Stabilisierung im Nahen Osten. handelsblatt.com 12.12.2024.

[16] Joint Statement Announcing the Timeline for the End of the Military Mission of the Global Coalition to Defeat ISIS in Iraq. state.gov 27.09.2024.

Quelle (mit freundlicher Genehmigung): German-Foreign-Policy.com v. 11.12.2024

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