Bonn am Sonntag, den 15. Dezember 2024
Liebe Freundinnen und liebe Freunde,
letztes Jahr habe ich es nicht geschafft, euch ein frohes, gesegnetes und friedliches Weihnachtsfest zu wünschen. Ich konnte es nicht, da es letztes Jahr im Süden des Gazastreifens weder Strom noch Internetzugang gab. Umso mehr freut es mich, dass ich zusammen mit meiner Familie jetzt hier im sicheren Bonn sein kann. Von meinem letzten Rundbrief wisst ihr, dass die Freude getrübt ist, weil Safa, unsere älteste Tochter, nicht mit uns nach Deutschland kommen durfte. Sie ist nach wie vor noch in Kairo und wir hoffen, dass es uns im neuen Jahr gelingen wird, dass sie zu uns kommen und ihr Studium hier fortsetzen kann.
In diesem Jahr nun wünsche ich euch ein fröhliches, gesegnetes, glückliches und friedliches Weihnachtsfest. Mögen eure Wünsche für das kommende Jahr und die kommenden Jahrzehnte in Erfüllung gehen. Auch wenn wir hier in Sicherheit leben, die Kinder nach über einem Jahr endlich wieder in die Schule gehen können und zunächst erst einmal fleißig Deutsch lernen, ich mit meiner Arbeit an der TU Berlin vorankomme, es also soweit gut für uns läuft, so sind unsere Erinnerungen und Gedanken täglich immer wieder in Gaza. Was wir erlebt haben und das Leid, das den Menschen in Gaza täglich nach wie vor zugefügt wird, ist uns jeden Tag, ja sogar jede Stunde gegenwärtig.
Für uns ist Gaza nicht weit weg. Für Deutschland, sogar für fast die ganze Welt scheint es inzwischen Wichtigeres zu geben als die täglichen Bombardierungen, die täglichen Zerstörungen, die jeden Tag getöteten Frauen und Kinder und Männer, die unzähligen Verletzten und die hungernden Menschen in Gaza, wahrzunehmen. Soweit ich sehe und höre wird nur noch sehr selten in den deutschen Medien von der grauenvollen Situation, vom unbeschreiblichen Leid, das den Menschen in Gaza zugefügt wird, berichtet. Gaza wieder vergessene Welt!!! Es gibt keinen sicheren Ort in Gaza. Im Norden des Gazastreifens wird offenbar gezielt eine „ethnische Säuberung“ vorgenommen, wie der frühere israelische Verteidigungs- bzw. Kriegsminister Moshe Ya‘alon öffentlich sagte.
Das Magazin „Der Spiegel“ zitiert ihn: „…in Wahrheit wird das Land von Arabern gesäubert.“ Ein Bruder von mir, der sich wie andere meiner Angehörigen im Norden von Gaza aufhielt, suchte mit seiner Familie Schutz im Haus seiner Schwiegereltern. Er wurde durch israelische Luftangriffe in Beit Lahya getötet, als das Haus bombardiert wurde. Das war am Dienstag, den 03. 12. 2024 am frühen Morgen. Seine Frau wurde verletzt. Seine Kinder haben schwer traumatisiert überlebt. Mein Bruder wurde 41 Jahre alt, er war Lehrer an einer Schule in Gaza-Stadt und hat das Fach Geschichte dort unterrichtet. Menschen in Gaza überleben, aber das ist kein Leben. Die Zerstörung nahezu aller Gebäude und fast der gesamten Infrastruktur ist sichtbar, die innere Zerstörung der Menschen, denen durch das, was ihnen angetan wird, das Menschsein abgesprochen wird, bleibt unsichtbar.
Diese innere Zerstörung wird im Moment noch durch den täglichen Kampf ums Überleben verdeckt, kann wahrscheinlich aber nie vergessen und geheilt werden. Sehr viele Menschen hungern, besonders im Norden. Erschreckend viele Kinder sind extrem unterernährt, manche sterben an Unterernährung. Die Versorgung der Bevölkerung ist katastrophal. Die wiederholten Forderungen der UN und anderer Organisationen und auch von Politikern wie z.B. Präsident Biden für ausreichend Grundnahrungsmittel, Hygieneartikel, Medizin usw. zu sorgen, werden von Israel weitgehend ignoriert. Wie zu hören ist, gibt es unter Beteiligung von Ägypten, Katar und der Türkei sowie USA Verhandlungen über eine Waffenruhe und einen Gefangenenaustausch. Es ist zu hoffen, dass alle Beteiligten wirklich ehrlich und aufrichtig das Leid beenden wollen. Ich wünsche es mir so sehr, dass es sehr bald zum Waffenstillstand kommt und dass das Blutvergießen endlich gestoppt wird. Hoffentlich bringt uns das neue Jahr den ersehnten Frieden.
Mit der Hoffnung, dass der Frieden endlich Wirklichkeit wird, verbleibe ich für heute mit herzlichen und solidarischen Grüßen
Ihr
Abed Schokry