Syrien ohne Assad

Freude und Hoffnung von Millionen aus Syrien geflohener Menschen über das Ende der mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Ära der Assad-Familie kann man verstehen. Aber ob sich ihre Wünsche nach Heimkehr oder die bei europäischen Politikern blitzschnell gefassten Rückführungspläne bald realisiere lassen, ist keineswegs ausgemacht. Denn Syrien bleibt vorerst ein Schauplatz verschiedener und zum Teil stark divergierender Interessen ausländischer Mächte. Daher ist es verfrüht anzunehmen, die Sehnsucht vor allem der daheimgebliebenen Bevölkerung nach Frieden und Beendigung der sanktionsbedingten Aushungerung und Mangelwirtschaft könne sich nun rasch erfüllen.  

Dass leicht motorisierte Rebellengruppen von Norden, Süden und Osten verblüffend rasch in den noch bestehenden Rumpfstaat vordringen konnten, war vor allem deshalb möglich, weil Baschar al-Assad seinen Abgang ins russische Exil durch eine möglichst geordnete Transition – unter anderem nach Konsultationen mit den Golfstaaten vorbereitete. Er hatte Armee und Polizei  angewiesen, keinen Widerstand mehr zu leisten. Seiner tapfer im Amt bleibenden Regierung und ihren Ministerien hatte er empfohlen, den Eroberern Zusammenarbeit anzubieten, um exzessive Gewalt und administratives Chaos einzudämmen. Als erster Erfolg dieser Übergangsstrategie ist zu verbuchen, dass Ahmed Hussein al-Sharah – bislang unter dem Namen Mohammed al-Jolani als Anführer von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) bekannt – bereits eine Amnestie für Soldaten verkündet hat. Ob die aus der radikal-islamistischen Nusra-Front hervorgegangene HTS, die in den USA und der Europäischen Union noch als Terrorgruppe gelistet ist, sich zum Aufbau einer lupenreinen Demokratie entschließen wird, beziehungsweise in ihrem künftige Einflussgebiet wenigstens den in Assads Staat gesicherten Laizismus anbietet, muss sich noch zeigen.

Unwahrscheinlich ist, dass ganz Syrien als demokratisch geläuterter souveräner Einheitsstaat neu ersteht. Die schon lange durch Bewaffnung und militärisches Training diverser internationaler Rebellengruppen an seiner Zerstückelung arbeitenden Staaten – Türkei, Israel und die von Großbritannien assistierten USA – verfolgen keine völlig identischen Interessen. Am ehesten ist das bei den USA, England und Israel der Fall, die dessen Sicherheit für am besten gewährleistet halten, wenn es von schwachen, mit innerem Chaos kämpfenden Staaten umgeben ist. Deshalb unterstützten die USA die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen durch eigene Truppen, die mit der Besetzung der wichtigsten Ölfelder Syriens das Assad-Regime von existentiellen Energiequellen abschnitt. Indem die USA durch einen Stützpunkt am Grenzübergang Al-Tanf die seit der Antike bestehende Handelsstraße vom Iran über den Irak nach Syrien blockierten, behinderten sie auch die – fälschlich immer wieder beschworene – Waffenhilfe aus dem Iran. Dessen Unterstützung bestand im wesentlichen aus entsendeten Militärspezialisten. Von Israel ist bekannt, dass es nicht nur durch Bombardements angeblich iranischer Einrichtungen fortlaufend in den Syrienkonflikt eingegriffen hat. Außerdem versorgte es jenseits des Golan operierende Rebellengruppen mit Waffen, Proviant und medizinischer Behandlung. Auch diese Gruppen sind jetzt in Richtung Damaskus vorgedrungen und es wundert nicht, wenn einige Medien meldeten, dass sich unter ihnen Angehörige der Israel Defense Forces befinden. Auf jeden Fall beansprucht Israel künftig eine neue, weit über den Golan reichende Pufferzone. 

Die kurdische Sache ist womöglich wieder das erste „Bauernopfer“  der Eskalation. Recip Tayyip Erdogan war es wohl, der die vorläufige Lösung des Syrienkonflikts angestoßen hat, um die unvorhersehbare Nahost-Politik Donald Trumps vor vollendete Tatsachen zu stellen. Er schickte die unter seiner Kontrolle stehenden Rebellen in Syriens abgespaltener Nordprovinz Idlib nicht nur gen Damaskus, sondern auch in den Kampf gegen bereits wochenlang vorher stark bombardierte kurdische Stellungen. Die Türkei will auf Biegen und Brechen das Entstehen eines unabhängigen kurdischen Staatsgebildes verhindern. Sie plant ganz offiziell, drei Millionen syrischer Flüchtlinge auf Gebieten anzusiedeln, die von Kurden bewohnt werden. Erdogan befindet sich aber nicht nur im Dissens mit dem amerikanisch-kurdischen Projekt, sondern stellt sich, jedenfalls seinem eigenen Volk gegenüber, auch energisch gegen Israels Besatzungspolitik in Gaza und im Westjordanland. Da noch nicht abzusehen ist, wie sich Ahmed Hussein al-Sharah endgültig zum Palästinakonflikt positionieren wird, erklärt sich, dass Israel seit dessen Einnahme von Damaskus die Bombardements von Waffendepots und Waffenfabriken intensiviert hat. Die Regierung von Benjamin Netanjahu zweifelt nicht grundlos, ob sich die neuen Kräfteverhältnisse in Syrien mittelfristig wirklich zu ihren Gunsten entwickeln.

Von einer Befriedung des Landes kann also keine Rede sein. Vielmehr ist es zu einem internationalen Schlachtfeld geworden, zum Teil des befürchteten und sich offenbar unaufhaltsam ausweitenden Großkonflikts im Nahen Osten. 

Quelle (mit freundlicher Genehmigung): welnetz.tv vom 17.12.2024

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