Der Angriff auf eine Synagoge in Ost-Jerusalem ist keineswegs die einzige Attacke auf ein Gotteshaus. Der erste Terrorist dieser Art war der Siedler Baruch Goldstein
Am 25.Februar 1994 verübte der in Brooklyn geborene, in der israelischen Siedlung Kyriat Arbaa wohnende Jude Baruch Goldstein im Grab der Patriarchen in Hebron (das zum Teil auch eine Moschee ist) ein Attentat auf betende Muslime und erschoß 29 von ihnen, 150 wurden verletzt. Goldstein selbst wurde von Überlebenden des Massakers getötet.
Mörder als Märtyrer – auf beiden Seiten
Nach dem Attentat bauten die Bewohner der Siedlung Kyriat Arbaa bei Hebron ihrem Mitbewohner ein Denkmal.
Ein ähnliches Muster ist nun in Jerusalem zu verzeichnen: zwei Palästinenser gehen, fast nach Art des „Islamischen Staates“ (IS) mit Äxten, Messern und Pistolen in eine Synagoge ein und ermorden dort vier betende Juden. Anschließend feiern Palästinenser in Gaza die Tat und erheben ihre beiden Landsleute zu „Märtyrern“.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schwört Rache und kündigt an, die Häuser der Attentäter – in denen noch ihre Familien wohnen – zu zerstören. Sippenhaft nennt man das – ein Vorgehen, das in keinem einzigen Rechtssystem auf dieser Welt erlaubt ist. Auch das Zerstören von Häusern, in denen Angehörige von Straftätern wohnen, gehört nicht in den international anerkannten Strafkodex.
Aussagen des Shin Bet-Chefs
Die Spirale der Gewalt, die sich in Jerusalem und in Teilen der besetzten Territorien immer weiter hoch schraubt, sollte niemanden überraschen. Besatzung ist in sich ein Akt der Gewalt. Kontrollposten, an den Palästinenser aufgehalten werden, nächtliche Razzien der Israelis auch in den von der palästinensischen Autonomiebehörte regierten Gebieten, Chancenlosigkeit einer ganzen palästinensischen jungen Generation, die Abriegelung von 1,8 Millionen Palästinensern in dem schmalem Küstenstreifen von Gaza – all das ist tägliche Gewalt, unter der ein ganzes Volk zu leiden hat.
In dem Dokumentarfilm „Töte zuerst“, der kürzlich wieder im TV-Sender ARTE ausgestrahlt wunde, berichten israelische Geheimdienstchefs, dass der Shin Bet nach dem Krieg von 1967 palästinensische Führer befragt habe, ob sie mit einer Zweistaatenlösung einverstanden sein. Einhelliges Ergebnis der Recherchen: damals wäre die Gründung eines palästinensisches Staates durchaus möglich gewesen. Shin Bet-Mitarbeiter haben diese Möglichkeit an die führenden israelischen Politiker der Epoche herangetragen und diesen Vorschlag befürwortet.
Rabins Meinungsänderung und seine Ermordung
Doch das politische Establishment Israels hat anders entschieden – nicht zuletzt unter dem wachsenden Einfluss der religiös ausgerichteten Siederbewegung, welche die besetzten Gebiete für Israel reklamierte – mit dem Argument, der Gott Israels Yahwe habe dieses Land seinem auserwählten Volk, den Juden zugewiesen. Der jetzt, nach dem Anschlag auf dien Synagoge in Jerusalem von manchen Kommentatoren so bezeichnete „Religionskrieg“ hat also schon viel früher, etwa mit dem Attentat Baruch Goldsteins in Hebron 1994, begonnen.
Aus der Siedlerbewegung kam auch der Attentäter Jigal Amir, der am 4.November 1995 den israelischen Premier Yitzhak Rabin ermordet hat. Jigal Amir war ein glühender Gegner der Friedensabkommen von Oslo (1993 und 1995). Während er ersten Intifada (1987-1993) wurde Rabin, damals Verteidigungsminister und zunächst unversöhnlicher Falke , mit dem Spruch bekannt „Wir sollten ihre Hände und Beine brechen“. Gemeint waren die aufsässigen Palästinenser. Unter denen wurde Rabin dann „Knochenbrecher“ genannt.
Später realisierte Rabin, daß man mit den Palästinensern zu einer Übereinkunft kommen müsse – andernfalls der islamitische Terrorismus, wie er fürchtete, Israel mehr und mehr bedrohen werde – eine Prophezeiung, die sich jetzt auf grausame Weise bestätigt hat. Am 13.September 1993 unterzeichnete Rabin zusammen mit Bill Clinton und Jassir Arafat im Weißen Haus das erste Friedensabkommen von Oslo.
Zu wenig Gehör für kritische israelische Stimmen?
In den fast zwanzig Jahren seit der Ermordung Yitzhak Rabins hat sich Israel stetig nach rechts, ja sogar in eine teilweise rassistische Richtung entwickelt. Kürzlich wurde bei einer Veranstaltung in Berlin ein Film gezeigt, der auf schreckliche Weise zeigte, wie Israel palästinensischen Bauern das für die Bewirtschaftung ihrer Felder notwendige Wasser vorenthält. In der anschliessenden Diskussion erklärte eine israelische Jüdin, man müsse Israel „jetzt helfen“. Was sie damit meinte: Ihre israelische Gesellschaft habe inzwischen rechtsextrem-rassistische Züge angenommen, sagte die Diskussionsteilnehmerin aus Israel. Israelis, wie etwa der „Haaretz“-Journalist Gideon Levy, könnten sich zuweilen nur noch mit persönlichen Leibwächtern in Tel Aviv auf die Strasse wagen. Anderen Kritikern werde zugerufen, man solle sie in die „„Gaskammern“ schicken.
In der Presse der Bundesrepublik finden solche Entwicklungen sowie kritische Stimmen israelischer Juden wie etwa die von Avraham Burg, Gideon Levy, Shlomo Sand, Ilan Pappe und Amira Hass kaum Gehör. Würde man sich mit diesen israelischen Bürgern in Deutschland und anderswo in Europa näher auseinandersetzen, würde wohl auch die Kritik an der Besatzungspolitik aller israelischen Regierungen, die nach dem Junikrieg von 1967 begann, die nach den Friedensabkommen von Oslo sogar intensiviert wurde, wesentlich deutlicher geäußert werden können.
Besatzungsmacht seit 47 Jahren
Bis jetzt ist es dagegen so, daß einmal geäusserte Kritik unter dem Druck der jüdischen Interessenverbände sogleich zurück genommen wird. So geschehen mit Martin Schulz, dem Präsidenten des europäischen Parlamentes, der vor der Knesset in Jerusalem die ungleiche Wasserverteilung zwischen Israelis und Palästinensern beklagte. So geschehen auch mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der einst bei einem Besuch in Hebron via Twitter beklagte, daß in Hebron einige hundert israelische Siedler einen ganzen palästinensischen Stadtteil terrorisierten. Beide SPD-Politiker relativierten nach ihrer Rückkehr unter dem Druck jüdischer Gruppen ihre Aussagen – und wiederholten sie bis jetzt nicht wieder.
Israel ist jetzt 66 Jahre alt. Seit 47 Jahren hält es die im Junikrieg von 1967 eroberten Gebiete besetzt. Weit mehr als zwei Drittel seines Bestehens ist Israel also eine Besatzungsmacht. Mit dieser tragischen Geschichte Israels hat sich auch immer wieder Abraham Melzer, ein deutscher Staatsbürger jüdischer Herkunft, befaßt. Bis 2012 führte er in Deutschland einen eigenen Verlag, der sich auf Judaica spezialisierte und kritischen Stimmen Israels ein Forum bot. Im Melzer Verlag erschien etwa der Goldstone-Bericht, der Israels Kriegführung im Gazakrieg von 2008/2009 analysierte und dem Land Kriegsverbrechen vorwarf.
Ein Krieg um Land
In dem Vorwort für das Buch „Schrei geliebtes Land – Leben und Tod unter israelischer Besatzung“, in welchem der Zambon-Verlag in Frankfurt a.M jetzt gesammelte Aufsetzte von Gideon Levy veröffentlicht, schreibt Abraham Melzer: „Israel aber wünscht keinen Frieden. Das ist Gideon Levys Einsicht nach so vielen Jahren der Berichterstattung aus den palästinensischen Gebieten. Für ihn steht fest, daß Israel der Täter ist und die Palästinenser das Opfer“. Soweit Abraham Melzer.
In Hebron wurden einst Muslime beim Beten ermordet. In Jerusalem traf der Tod Juden beim Beten. Ein religiöser Krieg ? Vor allem ist es ein Krieg um Land. Die in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts nach Palästina einwandernden, in Europa diskriminierten und verfolgten Juden meist durchaus säkularer, laizistischer Ausrichtung suchten in Palästina Schutz.
Die jüdische Philosophin Hannah Arendt hat nach 1945 eindringlich vor den Konflikt mit den in Palästina ansässigen Arabern gewarnt. Man müsse, schrieb sie, mit den einheimischen Arabern zu einem friedlichen Zusammenleben kommen – wozu manche von ihnen bereit waren. Ihre Warnungen führten nicht zu den erhofften Kompromisslösungen. Deshalb dauert die Tragödie bis heute an – ohne Aussicht auf ein friedliches Ende.
Heiko Flottau
Heiko Flottau war Auslandskorrespondent der Süddeutschen Zeitung für
Südosteuropa mit Sitz in Belgrad, für Osteuropa mit Sitz in Warschau. Fünfzehn Jahre berichtete er aus Kairo über die nahöstlichen Krisengebiete. Heute lebt er in Berlin. Buchveröffentlichungen: „Vom Nil bis an den Hindukusch – Der Nahe Osten und die neue Weltordnung“ (2004, arabische Ausgabe 2006); „Die Eiserne Mauer – Palästinenser und Israelis in einem zerrissenen Land“ (2009, arabische Ausgabe 2011)
Quelle (mit freundlicher Genehmigung): Journal21 v. 20.11.4
http://www.journal21.ch/terror-ohne-ende-im-heiligen-land
Im März in diesem Jahr bin ich in Hebron gewesen, ich war sowohl in der Synagoge als auch in der Moschee, und ich habe mir die furchtbare Tat, die Israel damals erschüttert hat, schildern lassen. Jitzchak Rabin verurteilte sie vor der Knesset und sagte gegenüber Jassir Arafat: „Ich finde keine Worte, die stark genug sind, um meine Empörung auszudrücken.“ Von Anhängern der Kach-Bewegung wurde Goldsteins Tat verherrlicht und er als „Gerechter“ (hebräisch: „Zaddik“) verehrt. Der Rabbiner Yitzchak Ginsburgh habe die Tat öffentlich gelobt und Goldstein als Märtyrer bezeichnet. Die Inschrift auf dem Denkmal für den Mörder in Hebron lautete: „Hier ruht der Heilige Dr. Baruch Kappel Goldstein, gesegnet sei das Andenken dieses aufrichtigen und heiligen Mannes, möge der Herr sein Blut rächen, der seine Seele den Juden, der jüdischen Religion und dem jüdischen Land geweiht hat. Seine Hände sind unschuldig und sein Herz ist rein. Er wurde als Märtyrer Gottes am 14. Adar, Purim, im Jahre 5754 (1994) getötet.“ Die religiös-radikalen Siedler in der – illegalen – Siedlung Kyria Arbaa verehren den Mörder weiterhin. Noch 2010 fand eine Gedenkveranstaltung von Goldstein-Anhängern in Hebron statt. Die Mitglieder des Siedlungsrates lobten Goldsteins Leben und Wirken.
Informationen wieder von Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Baruch_Goldstein). Aufschlussreich auch ein Artikel aus der Zeit v. 20.09.2011 von Nils Metzger (http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-09/siedler-kiryat-arba-palaestina), der über seinen Besuch in der berüchtigten Siedlung berichtet.
Wenn sich jetzt unsere Mainstream-Medien (mit Recht!) über die Morde von Palästinensern in der Synagoge in Jerusalem empören, ist es notwendig, auch auf die Morde, die radikale Juden begangen haben, hinzuweisen. Und auf die völlig asymmetrischen Dimensionen dieser Taten. Rabin war damals noch voller Mitgefühl für die Opfer; Netanyahu schwört Rache und lässt die Häuser der Angehörigen abreißen. Was rechtsstaatlich völlig unmöglich ist, weil es den international anerkannten Rechtsnormen unserer westlichen Welt widerspricht.
Sönke Hundt
Ich habe keine Ahnung, ob Tom Segev bei Wikipedia abgeschrieben hat oder umgekehrt oder ob das einfach nur ein belangloser Zufall ist, kann Ihnen aber versichern, dass es beim Pogrom von Hebron 1929 nicht mit Störungen von Gebetsveranstaltungen getan war und dass die Einzeltäter-These hier ebensowenig zieht wie bei ähnlich gelagerten Mordbrennereien. Dass die Täter nicht verherrlicht worden wären ist nur die nächste aus der Luft gegriffene Falschinformation. Ihnen wurde sehr wohl ein Denkmal gesetzt, mindestens in ideeller Form mit der Schlagzeile »Der Araberaufstand wächst!«, die die „Rote Fahne“ gleich am 28. August 1929 auf die Ereignisse münzte.
Ich würde mich gerne mit Ihnen darauf einigen, dass Massaker immer schrecklich sind, weiss aber nicht recht, ob das von Ihrer Seite nicht einfach nur als inhaltsleere Floskel vorgeschoben wird. Immerhin bringt Ihr angebliches „Nahost-Forum“ von all den „von wem auch immer“ begangenen Schlechtigkeiten ausschließlich Meldungen über solche, die sich Israel ankreiden lassen. Haben Sie sich dabei eigentlich schon einmal die Frage gestellt, ob das überhaupt die relevanten Missstände sind, unter denen die Region zu leiden hat? „Naher Osten“ meint ja eigentlich doch ein bisschen mehr. Sind nicht in Syrien inzwischen eine Million Menschen auf der Flucht, an die 200.000 ermordet worden? Ist das nicht schon jetzt die etwas größere „Nakba“?
Vielen Dank für den Hinweis. Bei Wikipedia wird das Massaker von Hebron beschrieben – offenbar in enger Anlehnung an die Darstellung bei Tom Segev. Dort ist von Störungen jüdischer Gebetsveranstaltungen in der Machpela-Höhle die Rede. Außerdem waren die Täter einzelne Araber. Die arabischen Familien versteckten 435 jüdische Nachbarn in ihren Häusern. Die Täter wurden nicht verherrlicht, und ihnen wurde kein Denkmal gebaut. Können wir uns vielleicht darauf einigen: Massaker sind immer schrecklich und können niemals gerechtfertigt werden, von wem auch immer und aus welchen Gründen auch immer.
Sönke Hundt
„Der Angriff auf eine Synagoge in Ost-Jerusalem ist keineswegs die einzige Attacke auf ein Gotteshaus. Der erste Terrorist dieser Art war der Siedler Baruch Goldstein“
Das stimmt nicht. Schon beim Massaker von Hebron 1929 griffen Terroristen ein Gotteshaus an.