Auf Quantara.de, dem Internetportal der Deutschen Welle („soll den intellektuellen Dialog mit der Kultur des Islam fördern“) wurde in einem Artikel am 7. Dezember 2016 auf die Situation der palästinensischen Binnenflüchtlinge aufmerksam gemacht. Das sind diejenigen, die während der Nakba und noch Jahre danach aus ihren Häusern vertrieben wurden, aber im Gebiet des neu geschaffenen Staates Israel verblieben.
Wadi Salib
In dem Artikel wird auch auf Wadi Salib, einem Stadtteil von Haifa verwiesen. Wadi Salib war vor der Nakba ein arabisches Viertel, von dem heute nur noch ein völlig heruntergekommenes und teilweise abgesperrtes Ruinenfeld übrig geblieben ist. Das Viertel hat eine bewegte und bewegende Geschichte hinter sich. Die ersten Bewohner in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts waren wohlhabende Araber, die am Hang des Wadi ihre prachtvollen Häuser im levantinisch-ottomanischen Stil erbauten. Danach wurde es von den palästinensischen Arbeitern der von den Briten gebauten Hedschasbahn und dem entstehenden Hafen besiedelt.
Zwischen dem 21. und 22. April 1948, also noch drei Wochen vor der „Unabhängigkeitserklärung“ des Staates Israel, starteten zionistische Truppenteile einen beispiellos grausamen Angriff auf die arabischen Viertel der Stadt und töteten bzw. vertrieben Tausende ihrer Einwohner. Nur ca. 3500 der ehemals 61.000 Palästinenser blieben zurück. Die Zurückgebliebenen wurden zwangsumgesiedelt in das palästinensischen Viertel Wadi Nisnas, das dem Wadi Salib benachbart ist.
Haifa keine „mixed city“ mehr
Haifa war vor 1948 eine „mixed city“ mit einer Bevölkerung (140.000 Einwohner), mit gleichen Anteilen einer jüdischen und palästinensischen (muslimisch und christlich) Bevölkerung. Der Anteil der Palästinenser betrug nach der Nakba nur noch 4 Prozent – der seitdem aber wieder auf ca. 10 Prozent angestiegen ist. Rd. 24.000 jüdische Flüchtlingen aus Europa, darunter viele Überlebende des Holocaust, kamen 1948 und 1949 in Haifa an und wurden in den zwangsgeräumten palästinensichen Vierteln untergebracht. Flüchtlinge wohnten fortan in den Häusern von anderen Flüchtlingen.
Ghassan Kanafani hat den Schicksalen einer palästinensischen Familie, die ihr Kind bei der Vertreibung zurücklassen musste, und einer jüdischen Familie, die aus Osteuropa vor den faschistischen Schergen geflohen war, in das Haus der schon geflohenen Familie zog und das Kind großgezogen hat, ein berühmtes literarisches Denkmal gesetzt. (Ghassan Kanafani: Rückkehr nach Haifa, 1972, 1968 zuerst im Lenos Verlag auf deutsch erschienen)
Verlassene, geräumte, gesperrte arabische Häuser im Wadi Salib
Politik der Vertreibung und Besiedlung
Die Geschichte des Wadi Salib geht dann weiter: die Stadtverwaltung hat jede Sanierung, Modernisierung und Erweiterung des Viertels und Infrastruktur untersagt und es verkommen lassen. Alles mit dem Ziel, die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge oder gar Ansprüche auf Eigentum unmöglich zu machen. Die überwiegend (ashkenasischen) europäischen Flüchtlinge sind dann z.T. wieder aus- und in die besseren und oberhalb der Hafengegend gelegenen Viertel gezogen. Danach folgte in den 50er und 60er Jahren die mehr oder weniger wilde Besiedlung mit (mizrahischen) Immigranten aus Marokko, die auf ihre Diskriminierung in der neuen israelischen Gesellschaft mit teilweise schweren Unruhen reagierten. Und die von der Stadtverwaltung ebenfalls aus diesem Viertel wieder vertrieben wurden.
„Man bediente sich verschiedener Taktiken, um die Errungenschaften des Krieges unumstößlich zu machen – evakuieren und besiedeln, zerlegen und zusammensetzen, zerstören und bauen. Sie umfassten das Besiedeln der verlassenen arabischen Viertel mit Immigranten, wie in Wadi Salib, die Konzentration der restlichen arabischen Stadtbewohner in Wadi Nisnas und der Zerstörung der Haifaer Altstadt.“ Yfaat Weiss, eine israelische Historikerin, hat die in der israelischen Öffentlichkeit weitgehend verdrängte Geschichte minutiös rekonstruiert. Für ihr Buch „Verdrängte Nachbarn. Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung“ (hebräische Ausgabe 2007, auf deutsch 2012 erschienen) hat sie 2012 in Bremen den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhalten. Das Preisgeld (7.500 Euro) wird von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Senat der Hansestadt gestiftet.
Entarabisierung
Die Vertreibungs- und gleichzeitige Besiedlungspolitik hat zu einer weitgehenden Entarabisierung Haifas gespürt, in dem nur noch einige Spuren seiner großen arabisch-ottomanisch-palästinensische Zeit zu finden sind. An die Nakba darf offiziell nicht erinnert werden. Es ist also heuchlerisch, wenn die Stadt Haifa heute trotzdem versucht, sich ein tolerantes und multikulturelles Image zu geben. Den Besuchern, vor allem aus Westeuropa, wird gern erzählt, wie froh man sei, dass hier weder Abraham, noch Jesus oder Mohammed geboren wurde und Haifa überhaupt nicht in der Bibel erwähnt werde. Und dass hier viele Religionen (Juden, Christen, Muslime, Drusen, Bahais …) und Ethnien friedlich miteinander leben und die Stadt bunt und liebenswert machen. Dennoch müsse, so Yfaat Weiss in ihrem Buch (S. 12), „eine Antwort auf das augenfällige und unbegreifliche Phänomen gegeben werden: die Existenz eines Trümmerhaufens im Herzen der Stadt über viele Jahrzehnte hinweg.“ Diese Narbe ziehe sich durch das gesamte Stadtgebiet Haifas, und sie konserviere, entgegen allen Proklamationen, die Ruinen von 1948.
Teilnahme an einer „Bürgerreise“ der DIG
Vom 25. März bis 2. April 2016 hatte ich das – etwas zweifelhafte – Vergnügen, an einer Bürgerreise der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Bremen nach Israel teilzunehmen. Weil Haifa die Partnerstadt Bremens ist, hatte die Reise auch dort ihren Mittelpunkt. Die Reisegruppe hatte ein ausführliches und sehr interessantes Gespräch mit dem für die Stadtplanung und Stadtentwicklung verantwortlichen Dezernenten, wobei wir viel über die jüdische Immigration, die Neubaugebiete und die Zukunftspläne erfuhren – aber nichts über die Nakba und das Schicksal der palästinensischen Viertel der Stadt. Weil mich das Thema aber interessierte, quartierte ich mich nach Ende der DIG-Reise für einige Tage im Viertel Wadi Nisnas ein, traf mich mit einem Vertreter der israelischen Friedensorganisation Gush Shalom und ließ mir während eines langen Spaziergangs die traurigen Überreste des Wadi Salib zeigen lassen.
Das Wadi Salib liegt direkt in der Nahbarschaft des Stadtzentrums mit seinen neuen Regierungs-, Gerichts- und Bankgebäuden. Wahrscheinlich existieren schon längst Pläne für die übliche Hochhausbebauung. Da Israel ein kapitalistisches Land einschließlich einer intensiven Immobilienspekulation in den großen Städten ist, ist der Beginn der „Urbanisierung“ des Wadi Salib wahrscheinlich bald zu erwarten.
Sönke Hundt
Material:
Yfaat Weiss: Verdrängte Nachbarn. Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung, Tel Aviv 2007, deutsche Ausgabe Hamburg 2012
Ariel Azoff: Die gemischte Stadt: 250 Jahre jüdisch-muslimisch-christliche Beziehungen in Haifa.
In: Haifa: Gemischte Stadt in einem geteilten Land. Schwalbach/Ts. 2011, S. 18 ff.
Wikipedia-Artikel über Haifa und über das Wadi Salib.
Unglaublich – in Aleppo werden gerade ganze Stadtviertel ausgelöscht, und hier beschäftigt man sich lieber mit „beispiellos grausamen Angriffen“ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und Binnenflüchtlingen von vor 68 Jahren (genau genommen ja eher mit deren Nachfahren, die vermutlich bis ins letzte Glied von interessierter Seite den Flüchtlingsstatus vererbt bekommen werden) und möchte das dann als Aufklärung über den Nahost-Konflikt oder so ähnlich verstanden wissen. Das sagt wohl vorrangig etwas über Deutschland und Bremen.