Uwe Becker (CDU), Bürgermeister und Kämmerer der Stadt Frankfurt am Main, möchte keine israelkritischen Juden in seiner Stadt haben.
Ein kleiner Schritt für Frankfurts Bürgermeister, ein großer Sprung für deutsche Normalisierer: Uwe Becker (CDU) demonstriert neues-altes Selbstbewusstsein und erklärt jüdische und andere Israelkritiker kurzerhand für »nicht willkommen« in seiner Stadt. Zu den unerwünschten Personen gehört der israelische Historiker und Sohn von Holocaust-Überlebenden Moshe Zuckermann, der in Frankfurt aufgewachsen ist. M&R bat ihn um eine Replik.
Vom 9. bis 10. Juni 2017 sollte in Frankfurt am Main eine Konferenz mit dem Titel »50 Jahre israelische Besatzung. Unsere Verantwortung für eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts« stattfinden. Veranstalter ist der Deutsche Koordinationsrat Palästina Israel (KOPI). Teilnehmen sollten Referenten aus Israel, Palästina und Deutschland. Die Konferenz wird, so wie es momentan aussieht, nicht abgehalten werden können. Sie ist bereits im Vorfeld abgewürgt worden. Eine Welle von Hass-Mails aus aller Welt und eine Diffamierungskampagne, deren Urheber auch vor Gewaltandrohungen nicht zurückschrecken, haben den Vermieter des Saals, in welchem die Konferenz stattfinden sollte, dazu bewogen, seinen Vertrag mit den Organisatoren zu annullieren und der Forderung nach einem Raumverbot nachzugeben. Warum? Weil die Veranstaltung als »antisemitisch« stigmatisiert worden ist. Von wem? Nun, diese Frage ist komplexer zu beantworten.
Es handelt sich um eine Konstellation von »Antisemiten-Jägern«, wie sie sich selbst gern apostrophieren, die mit dem real existierenden Antisemitismus nicht sehr viel zu schaffen haben, sich dafür aber umso gründlicher aufs Jagen spezialisiert haben. Da wäre zunächst die sogenannte Israel-Lobby, bestehend aus Vertretern der jüdischen Gemeinden in Deutschland mit der Rückendeckung der israelischen Botschaft, mithin des verlängerten Arms des israelischen Außenministeriums. Da wären die Reste der Randerscheinung der sogenannten »Antideutschen«, einer ehemaligen linken deutschen Bewegung, die es heute mittlerweile in Sachen überbordender Israelliebe und -solidarität mit jedem israelischen Faschisten aufnehmen kann. Da wären zudem das Medienestablishment, das sich mit der offiziellen Israelpolitik Deutschlands politischer Klasse darin verschwistert weiß, dass es Israels Politik nie konsequent kritisieren würde und, wie in diesem Fall der haarsträubenden Denunzierung, zumeist betreten wegschaut, wenn die Lappalie einer Verteidigung der freien Meinungsäußerung ansteht. Wer will schon »Antisemiten« verteidigen? Und es geht, wie gesagt, um die politische Klasse Deutschlands, die in diesem Fall vom Frankfurter Bürgermeister und Stadtkämmerer Uwe Becker (CDU) vertreten ist.
Dass die israelische Regierung und ihre Institutionen nicht daran interessiert sind, dass eine Konferenz über die israelische Besatzung stattfindet, versteht sich von selbst. Für die gegenwärtig regierende Koalition, die rechteste in der gesamten israelischen Parlamentsgeschichte, erledigt sich die Besatzungs-Frage von selbst: Es gibt ja keine, denn »Juden dürfen sich überall in Erez Israel ansiedeln«, und wer das anders sieht, möge die Bibel neu schreiben, wie Naftali Bennett, der Erziehungsminister, vor einigen Wochen einem Al-Jazeera-Reporter klarmachte, der nicht ganz einzusehen vermochte, was die mythische Bibelgeschichte mit der realen Politik Israels im Jahre 2017 zu tun hat.
Dass Vertreter der jüdischen Gemeinden in Deutschland in derlei Situationen meinen, auf der Hut sein zu sollen, und jedwede Israelkritik sogleich als »antisemitisch« abkanzeln, mithin Israelkritik, Antizionismus und Antisemitismus automatisch gleichsetzen, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Welche andere Identität haben die Mitglieder dieser Gemeinden als Juden vorzuweisen, wenn sie nicht die rein religiöse beanspruchen (es sind ja säkulare Juden zumeist)? Mit der Identität als deutsche Staatsbürger tut man sich aus historischen Gründen noch immer schwer; in Israel lebt man ja nicht – also projiziert man die »jüdische« Identität auf ein abstraktes Israel und suhlt sich in Solidarität mit dem fernen Land, weil man mit seinem eigenen realen Dasein in Deutschland offenbar nur schlecht zurande kommt. Erstaunlich, wie sie dabei ihren defizitären Stellenwert als »in Deutschland lebende Juden« in der Sphäre der deutschen Öffentlichkeit zu verwerten verstehen, vor allem aber auch, wie die deutsche Öffentlichkeit ihnen diese erbärmliche Instrumentalisierung ihres Jude-Seins zugesteht.
Dass sich die deutsche Politik und mit ihr die deutsche Medienwelt dem Tabu der Israelkritik (selbst auferlegt) verschrieben hat, ist auch nicht sonderlich überraschend. Das ist ja der Deal zwischen Israel und Deutschland schon seit 1952: Das Täterland befleißigt sich in »Wiedergutmachung«, und Israel gewährt die Absolution, indem es sich bezahlen lässt. Es gab gute Gründe dafür: Deutschland wollte nach der NS-Zeit zurück in die Völkergemeinschaft, und das junge Israel brauchte das Geld für seinen Aufbau im ersten Jahrzehnt seines Bestehens. Mit Erinnern und Gedenken hatte dieser Deal rein gar nichts zu tun, sondern vor allem mit der Materialisierung der Sühne und deren endlosen, bis jetzt anhaltenden Instrumentalisierung auf beiden Seiten: Noch heute meinen deutsche Politiker und Medienleute, an Juden etwas über Israel »wiedergutmachen« zu sollen. Sie solidarisieren sich mit »Juden«, indem sie sie allesamt den Kategorien »Israel« und »Zionismus« subsumieren – und somit wie ehedem abstrahieren. Zur wahren ideologisch-manipulativen Meisterschaft darin haben es besagte »Antideutsche« gebracht. In ihrem Lager ist der Tauschwert der Israelsolidarität nachgerade zum identitären Kulturkapital geronnen. Die überwältigende Mehrheit der Juden ihrerseits lassen sich die gesamte Farce der solcherweise entstellten deutsch-jüdischen Beziehungen nicht nur gefallen, sondern nähren diese unsägliche Verdinglichung des Ressentiments, wo immer sich die Gelegenheit dazu bietet.
Relativ neu ist allerdings die Erscheinung eines Uwe Beckers. Denn deutsche Politiker haben sich zwar stets mit »Israel« und »unseren jüdischen Mitbürgern« solidarisiert, haben sich aber an der Unterbindung von Veranstaltungen nicht offensiv beteiligt – es sei denn, es ging um neonazistische Kundgebungen und Aktionen. Und selbst bei diesen haben sie für gewöhnlich vor konkreten Maßnahmen halt gemacht: Neonazis dürfen in Deutschland demonstrieren. Uwe Becker hingegen ist ein Mann der Tat. Sich auf einen Beschluss des CDU-Parteitags 2016 in Essen gegen die Kampagne Boycott Divestment and Sanctions (BDS) beziehend, erklärte er: »Wer heute unter der Fahne der BDS-Bewegung zum Boykott israelischer Waren und Dienstleistungen aufruft, der spricht in der gleichen Sprache, in der man einst die Menschen dazu aufgerufen hat, nicht bei Juden zu kaufen. Dies ist nichts anderes als plumper Antisemitismus, wie ihn schon die Nationalsozialisten instrumentalisiert haben.« Uwe Becker hat sich in der Solidarität mit Juden bereits politisches Kapital angeeignet. Rechte Graffiti im Frankfurter Ostpark verurteilte er umgehend: »Wir dürfen das nicht als Kavaliersdelikte oder Dumme-Jungen-Streiche abtun, das ist blanker Hass und Antisemitismus.« Das ist sehr honorig von ihm, gibt aber zu denken: Nazi-Graffiti und BDS-Boykottaufrufe sind für ihn beide Antisemitismus. Und nun auch die vorgesehene, zumindest vorläufig unterbundene israelkritische Konferenz in Frankfurt. Uwe Becker steht mit an vorderster Front gegen die Veranstaltung: KOPI sei für die Unterstützung der antisemitischen BDS-Bewegung bekannt, sagte er. Die Bewegung betreibe eine »zutiefst antisemitische Stimmungsmache« und benutze »die gleiche Sprache wie die Nationalsozialisten«, die »Kauft nicht bei Juden!« proklamiert haben. Nazi-Graffiti, BDS und KOPI-Konferenz also alles antisemitisch – und somit auch alles, was mit letzterer zusammenhängt, u.a. die jüdischen Teilnehmer Iris Hefets, Ilan Pappe und ich. Ganz zu schweigen von der Palästinenserin Majida Al-Masri und dem deutschen Linken Norman Paech.
Es sei Uwe Becker zugutegehalten, dass er Klartext redet. Eine solche Veranstaltung habe in Frankfurt nichts verloren, sagte er. »Wer in Frankfurt Stimmung gegen Israel machen will, wer für den Boykott israelischer Waren wirbt und Sanktionen gegenüber diesem Land fordert, ist in unserer Stadt nicht willkommen.« Aber klar gesprochen heißt mitnichten klar gedacht, wie sich herausstellt. Dazu eine kleine Randbemerkung in eigener Sache: Ich habe in Frankfurt der 1960er-Jahre als Sohn von Holocaust-Überlebenden gelebt, bevor Uwe Becker auf die Welt gekommen ist. Das Recht, mich in dieser Stadt willkommen zu fühlen oder nicht, habe ich mir lebensgeschichtlich erworben, und ich brauche den Segen eines Uwe Beckers dazu nicht. Ich weiß nicht, was die Familie von Uwe Becker im Krieg gemacht hat, hingegen weiß ich sehr wohl, was meine Familie erlitten hat. Ich meine, Uwe Becker sollte sich sehr vorsehen, ehe er sich anmaßt, mir oder irgendeinem anderen Juden suggerieren zu wollen, Antisemit zu sein bzw. sich mit Antisemiten verbandelt zu haben.
Dass Uwe Becker offenbar nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel und somit zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik zu unterscheiden vermag, sei ihm nachgesehen. Ihm ergeht es wie den allermeisten Deutschen in dieser Sache. Dass er Boykott-Aufrufe gegen Israel gleich als Antisemitismus ansieht, sei ihm auch geschenkt. Dass er aber den Boykott-Aufruf gegen israelische Waren mit dem Aufruf der Nazis, nicht bei Juden zu kaufen, gleichsetzt, indiziert, dass er nicht begriffen hat, worum es hier geht. Denn fragen sollte sich Uwe Becker, warum zum Boykott gegen Israel aufgerufen wird (und ich sage das, ungeachtet der Frage, ob der Boykott zu unterstützen sei oder nicht). Gibt es an Israel etwas, dass zumindest den Gedanken an Boykott aufkommen lassen könnte? Die von den Nazis verfolgten Juden hatten nichts verbrochen, was die faschistische Schikane, die sich sehr bald zu Monströsem entfalten sollte, plausibel gemacht hätte.
Und Israel? Nun, es scheint Uwe Becker entgangen zu sein, dass Israel seit bald 50 Jahren ein brutales Okkupationsregime betreibt und in den von ihm besetzten Gebieten das palästinensische Volk knechtet. Das ist kein Abstraktum, sondern eine tagtäglich und allnächtlich perpetuierte Realität – eine Menschenrechte zutiefst verachtende und völkerrechtswidrige Praxis. Nicht nur sind dabei die Palästinenser lebensweltlich permanenter Gewalt ausgesetzt, sondern sie werden zugleich systematisch und mit Vorbedacht ihrer nationalen Selbstbestimmung beraubt. Uwe Becker muss sich also fragen lassen, ob er überhaupt begriffen hat, mit was für einem Israel er sich solidarisiert? Weiß er überhaupt, was in dem Land vorgeht, das er vor jüdischen »Antisemiten« in Schutz nehmen zu sollen meint? Um dieses Israel und seine Rolle in dem Konflikt mit den Palästinensern sollte es in der u.a. von ihm vereitelten Konferenz gehen. Was hat ihn dazu berechtigt, sich dem Verdikt der Vertreter der jüdischen Gemeinde Frankfurts anzuschließen, außer seine ideologische Verblendung? Wieso erdreistet er sich, den Konferenz-Teilnehmern Antisemitismus zu unterstellen, sie mit Nazis zu assoziieren?
Vielerlei Vermutungen ließen sich bei der Beantwortung dieser Fragen anstellen. Es scheint aber an der Zeit zu sein, zumindest die Grundkoordinaten dieser üblen Debatte zurechtzurücken. An Uwe Becker: Deutsche haben an Juden Monströses verbrochen – wenn man also schon mit Kollektivkategorien operiert (Solidarität mit »Juden« und »Israel«), sollte man sehr, sehr vorsichtig sein, ehe man als Deutscher einen Juden des Antisemitismus bezichtigt. Allzu leicht ließe sich da eine Projektion herauslesen, bei der sich dunkle Abgründe öffnen. An die jüdischen Gemeinden in Deutschland: Es waren deutsche Faschisten, die an Juden das Monströse verbrochen haben. Juden dürfen sich, wenn sie ein Minimum an Gedenken dessen, was es zu gedenken gilt, wahren wollen, nicht mit Faschisten solidarisieren, auch nicht mit jüdischen Faschisten – und Israel faschisiert zunehmend, nicht zuletzt infolge der von ihm seit 50 Jahren betriebenen Besatzungsbarbarei. In diese historische Sackgasse hat sich das Land, das sich als »das Land der Juden« versteht, hineinmanövriert und verrät dabei das Andenken der Opfer. An die deutschen Medien und Deutschlands Politiker: Es ist nachvollziehbar, wenn auch bedauerlich, dass man sich der Kritik an Israel enthalten zu sollen meint; Hitlers Vermächtnis wirkt eben noch mächtiger nach, als man es vermutet. Denn man sollte sich zumindest klarmachen, dass das Beschweigen dessen, was Israel mit der Besatzung verbricht, nicht nur einen Verrat an den Palästinensern bedeutet, sondern auch an dem, was Israel hätte sein können, wenn es nicht den vor einem halben Jahrhundert gewählten historischen Weg eingeschlagen hätte. Es ist noch nicht zu spät, ihn zu korrigieren. Was es Israels politischer Klasse und seiner Bevölkerung zu sagen gäbe, hätte auf der Konferenz erörtert und debattiert werden können. Die ist nun aber vereitelt worden.
Moshe Zuckermann
in: M&R (Melodie & Rhythmus) 2/2017
http://www.melodieundrhythmus.com/mr-aktuell/deutsche-abgruende/