Die Politik Israels psychologisch und psychoanalytisch erklärt – eine gut besuchte Veranstaltung in der Villa Ichon

01-200Avigail Abarbanel, geb. 1964, ist Psychologin und Psychoterapeutin. Außerdem ist sie Jüdin, Enkelin von Holocaust-Überlebenden, wuchs in einem Vorort von Tel Aviv auf, ging dort zur Schule, studierte in Israel auf der Bar-Ilan University und leistete ihren zweijährigen Militärdienst in der IDF. Dort war sie, wie sie erzählte, an der Ausarbeitung von Trainingsplänen für die libanesischen Milizen beteiligt, die 1982 das berüchtigte Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila verübten. Vor allem aber ist sie, wie man heute sagen müsste, israelische Dissidentin. Sie brach mit ihrem Land, mit seiner herrschenden Ideologie des Zionismus, gab 2001 ihre Staatsbürgerschaft zurück, wanderte nach Australien aus und schuf sich dort ihre berufliche Existenz als Psychoterapeutin. Heute lebt und praktiziert sie in Schottland, setzt sich für die Rechte der Palästinenser, ist Unterstützerin der BDS-Kampagne und Befürworterin einer Ein-Staaten-Lösung für Israel und Palästina.

Ein Verbund, bestehend aus dem Nahost-Forum Bremen, dem AK-Nahost, dem Israelischen Komittee gegen Häuerzerstörungen (ICAHD) und der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft e. V., hatte sie am 11. Juni 2014 zu einer Veranstaltung in die Villa Ichon eingeladen. Ihr Thema: „Die Psychologie des israelischen Siedlerkolonialismus“. Der obere Saal in der „Villa“ war bald voll (gut 75 Interessierte), so dass noch weitere Stühle aufgestellt und der hintere Raum geöffnet werden mussten. Die Veranstalter waren sehr zufrieden, zeigte es sich doch, dass in Bremen für das so schwierige Thema Nahost ein großes Interesse und Informationsbedürfnis besteht.

Wie angekündigt, wurde der Zionismus und der Staat Israel sozusagen auf die Couch der Psychotherapeutin gelegt, die dann versuchte, aus der Psychologie der Staatsgründung, der Vorgeschichte des jüdischen Volkes, des Exils, des religösen Hintergrunds und des Holocaust Erklärungen für das für viele Unerklärliche und Unfassbare in den letzten Jahrzehnten zu finden: wie ist es möglich, dass der Staat Israel, dessen Menschen eine so grausame Verfolgungsgeschichte erleiden mussten, mit einer derartigen Härte und Unmenschlichkeit gegen die Palästinenser vorgeht und dabei permanent und ohne Rücksicht auf die internationale öffentliche Meinung das Völkerrecht und die Menschenrechte missachtet?

Avigail Abarbanel ist der festen Überzeugung, dass letzten Endes das Bewusstsein und das Verhalten von Menschen von der Psychologie her erklärt werden müssten und auch könnten. Und vor allem: dass eine Übertragung diese Erkenntnisse aus der Individual-Psychologie und -Psychotherapie auch auf Gesellschaften, Gemeinschaften und Staaten möglich wäre. Wenn Menschen zu ihr in die Praxis kämen, so die Referentin, suchten sie Hilfe und wären deshalb einer Therapie, die bekanntlich Jahre dauern könne, gegenüber aufgeschlossen. Deshalb kämen sie ja zu ihr. Bei Israel wäre das (leider) anders. Der Staat und die Gesellschaft Israels würden eben gerade nicht ihr eigenes Leiden erkennen, sondern ihre Politik, die für so viele Menschen so großes Leid bedeutet, ohne Selbstreflexion weiter betreiben.

Die Referentin verstand es, mit viel Witz und Charme dieses überaus komplexe Thema „rüberzubringen“. Da sie ja den Versuch unternommen hatte, das Bewusstsein einer ganzen Gesellschaft von sich selbst und ihr Verhalten (vor allem gegenüber den Palästinensern) zu erklären, griff die Referentin zu einem eigentlich sehr plausiblen Kunstgriff. Sie bezog sich weitgehend auf das geltende Erziehungssystem in Israel und auf die dort vermittelten Werte, Überzeugungen, Erzählungen und Ideologien, mit der die Kinder und Jugendlichen in den Schulen indoktriniert würden. Diese ganz besondere Wertevermittlung hatte sie ja selber mitgemacht, so dass sie aus eigenem Erleben darüber berichten konnte. Eingangs hatte sie darauf hingewiesen, dass dieses Referat keinen wissenschaftlichen Charakter hätte, aber dass die Ergebnisse sehr wohl alle ein wissenschaftliches Fundament hätten. D. h., dass man ihre Erlebnisse und Erkenntnisse sehr wohl verallgemeiner könne.

Wie dieses psychische „Gehäuse“ dann im einzelnen aussieht, und aus welchen Elementen es sich schließlich zusammensetzt – das kann natürlich in diesem Bericht über die Veranstaltung nicht wiedergegeben werden. Für Interessierte sei ihre sehr informative Homepage mit vielen weiteren Links empfohlen. Leider ist von ihren Veröffentlichungen bisher keine ins Deutsche übersetzt worden.

Im Anschluss an das Referat ergab sich eine außerordentlich interessante und – zum Glück – von irgendwelchen Aggressionen völlig freie Diskussion. Lang anhaltender Applaus dankte der Referentin. Der Applaus ging auch an ihren kongenialen Übersetzer, der schnell und leicht und überaus verständlich in beide Richtungen übersetzte.
Sönke Hundt