Israelkritik und Antisemitismusvorwurf – Veranstaltungsverbote als Problem der Meinungsfreiheit

von Johannes Feest

2016 wehrte sich die „Jüdische Stimme“, ein in Berlin ansässiger Verein jüdischer Mitbürger/innen, gegen die Kündigung seines Vereinskontos durch die Bank für Sozialwirtschaft. Die Kündigung ging auf einen Hinweis zurück, dass der Verein die gegen Israel gerichtete BDS-Boykottkampagne unterstütze. Seitdem mehren sich die Fälle, in denen mutmaßlichen BDS-Unterstützer/innen kurzfristig Veranstaltungsräume gekündigt werden.

Andererseits weisen Organisationen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung auf eine Zunahme antisemitischer Ressentiments in der Bevölkerung hin, wobei der Antisemitismus häufig als Kritik an Israel maskiert sei. Zudem steige die Zahl antisemitischer Übergriffe. Dem begegnete die Bundesregierung kürzlich mit einem Kabinettsbeschluss zu einem erweiterten Antisemitismus-Begriff, der demnächst vermutlich bei der Vergabe von Fördermitteln u.ä.m. wirksam wird. Zugleich wurde nach den Protesten gegen die umstrittene Jerusalem-Entscheidung der Vereinigten Staaten hierzulande eine Verschärfung des Strafrechts gegen das Flaggen-Verbrennen gefördert.

Der folgende Beitrag von Johannes Feest greift diese Diskussionen auf: Wie viel Kritik an der israelischen Politik muss und soll erlaubt sein? Welchen Begriff von Antisemitismus sollten staatliche Stellen sinnvoller Weise anwenden? Und was muss der Staat dulden bzw. in welchem Rahmen darf er in die politische Auseinandersetzung eingreifen?

Die Meinungsfreiheit gilt in Deutschland als ein für die demokratische Gesellschaft zentrales Grundrecht. Dem entspricht ein normativ besonders starker Schutz in Art. 5 Grundgesetz (GG). Der Nahostkonflikt und die seit 50 Jahren andauernde Okkupation des Westjordanlandes beginnen jedoch diese Meinungsfreiheit ernsthaft zu gefährden. Kritiker der Politik der israelischen Regierung sehen sich mit Veranstaltungsverboten, dem Entzug von Lehraufträgen, Publikationsbehinderungen u.ä. konfrontiert. (1) Zur Begründung der Behinderungen wird dabei vielfach ein Antisemitismusbegriff ins Feld geführt, der auch Kritik am Zionismus oder an der Politik der israelischen Regierung als antisemitisch klassifiziert. Als Hauptbeispiel für diesen „neuen Antisemitismus“ gilt die transnationale BDS-Kampagne, welche versucht, Israel durch „Boycott, Divestment and Sanctions“(2) zur Beendigung der Okkupation palästinensischer Gebiete zu veranlassen.

Zur Kritik an der israelischen Besatzungspolitik im Westjordanland und in Gaza gibt es in Deutschland zwei sich grundsätzlich widersprechende Positionen:

  1. Deutschland habe, aufgrund des Holocaust, eine spezielle Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel; es stehe daher Deutschen nicht zu, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren.
  2. Deutschland habe, aufgrund des Holocaust, eine Verantwortung nicht nur für Israel, sondern auch für die durch die Staatsgründung verdrängten Palästinenser.

Beide Meinungen stehen gleichermaßen unter dem Schutz von Art. 5 GG. Der deutsche Staat darf daher keine dieser Meinungen unterdrücken, auch nicht durch Intervention bei formal privaten Veranstaltern. Inwieweit er zur Förderung einer oder beider Meinungen unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt verpflichtet ist, bleibt umstritten. Zweifellos sollte der Staat keine antisemitischen Veranstaltungen unterstützen. Das verbietet sich schon unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde. Es setzt aber eine klare, juristisch haltbare Definition von Antisemitismus voraus. Die kürzlich von der Bundesregierung verabschiedete „Arbeitsdefinition“ bietet dafür keine ausreichende Grundlage.

Ausweitungen des „Antisemitismus“-Begriffs

Die Judenfeindschaft hat eine sehr lange Geschichte. Den Begriff „Antisemitismus“ bzw. „Antisemit“ gibt es aber erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Er war zunächst eine Selbstbezeichnung von Personen, die sich 1879 in der „Antisemiten-Liga“ zusammenschlossen, mit dem Ziel „unser deutsches Vaterland vor der vollständigen Verjudung zu retten und den Nachkommen der Urbewohner den Aufenthalt in demselben erträglich zu machen“. Von den Gegnern solcher Forderungen wurden die Begriffe übernommen und „Antisemitismus“ entwickelte sich im 20. Jahrhundert zum Kampfbegriff für die Ächtung jeglicher Art von Judenfeindschaft. Mindestens in Deutschland ist es heute beleidigend und rufschädigend, als „Antisemit“ bezeichnet zu werden. (3)

Die klassischen Definitionen lassen sich dahin zusammenfassen, dass es beim „Antisemitismus“ um die pauschale Ablehnung, Diskriminierung und/oder Verfolgung von Juden als Juden geht. In einem Essay hat der britische Philosoph Brian Klug dies näher erläutert. Es gehe um „Feindlichkeit gegen Juden als ‘Juden’. Anführungszeichen um das Wort ‘Juden’ einzufügen mag wie ein Detail erscheinen, aber es verwandelt den Sinn der Definition. Genau erklärt sagt es folgendes: Antisemitismus ist eine Form von Feindlichkeit gegen Juden als Juden, in der Juden wahrgenommen werden als etwas anderes als sie sind.“(4) Das heißt: es werden Menschen aufgrund ihrer Abstammung, Religion, ihres Aussehens, ihres Namens „jüdische“ Eigenschaften zugeschrieben, welche dann als Begründung für ihre Ablehnung, Diskriminierung Verfolgung und Vernichtung dienen.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es eine lebhafte Diskussion über „Neuen Antisemitismus“ (5). Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob die Feindlichkeit gegenüber Juden in unserer Zeit neue Formen gefunden hat. In Deutschland hat es vor allem Samuel Salzborn unternommen, eine erweiterte Antisemitismus-Definition zu propagieren und theoretisch zu untermauern. Er unterscheidet zwischen anti-zionistischem, anti-israelischem und „internationalem Antisemitismus: die BDS-Kampagne“(6), und bezieht sich dabei vor allem auf eine „Arbeitsdefinition der EU“.

Diese Working Definition wurde von der American Jewish Alliance initiiert und im Rahmen der europäischen Grundrechteagentur (FRA) sowie deren Vorläuferin (der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – EUMC) entwickelt (7), allerdings von der EU niemals offiziell übernommen. Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) hat diese Arbeiten fortgeführt und am 26.5.2016 die endgültige Fassung der Working Definition verabschiedet. (8) Am 31.5.2017 hat das Europaparlament mehrheitlich den europäischen Staaten empfohlen, die Definition der IHRA zu übernehmen. Sie wurde inzwischen von mehreren Staaten (darunter Österreich) adoptiert, am 20.9.2017 hat auch das deutsche Bundeskabinett beschlossen, sich die IHRA-Definition zu eigen zu machen. Sie lautet wie folgt:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Im Anschluss an diese klassische Definition heißt es: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ Damit wird die Möglichkeit eines israelbezogenen Antisemitismus ausdrücklich hervorgehoben. Operationalisiert wird diese Erweiterung durch eine Reihe von „heutigen Beispielen von Antisemitismus im öffentlichen Leben, den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und im religiösen Bereich“. Die folgenden konkreten Beispiele betreffen Israel:

  • Behauptung, jüdische Bürger verhielten sich loyaler gegenüber Israel als gegenüber ihrem eigenen Staat
  • Verneinung eines Selbstbestimmungsrechts des jüdischen Volkes, z.B. durch die Behauptung, der Staat Israel sei ein rassistisches Unterfangen
  • Anwendung von Doppelstandards, indem von Israel ein Verhalten gefordert wird, welches von anderen demokratischen Staaten nicht erwartet wird
  • Übertragung klassisch antisemitischer Symbole und Bilder auf Israel und Israelis (z.B. Juden als Mörder von Jesus Christus oder das fordern von „Blutzoll“)
  • Vergleiche zwischen der Politik Israels und der der Nazis.

Eine eigene, komplexere Definition hat Sergey Lagodinsky in seiner einschlägigen Doktorarbeit vorgelegt. (9) Umso mehr erstaunt es, dass er die Arbeitsdefinition der EUMC/ FRA (die der IHRA war noch nicht verabschiedet) zwar beschreibt, sich aber jeder Kritik daran enthält (10) und sogar betont, das Dokument sei „eine wichtige Stütze für die Praxis der Beobachtung von Antisemitismus, der Erfassung entsprechender Taten und der Strafverfolgung“ (11).
[…]

der vollständige Artikel hier als pdf-Datei

der Artikel ist am 21. Dezember 2017 erschienen in der Zeitschrift der Humanistischen Union „vorgänge“ Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 117 – 126

(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)

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