(Übernommen, mit freundlicher Genehmigung, von Palästina Nachrichten PN v. 05.04.2018) – Im Gazastreifen geht das durch die israelische Armee verursachte Töten von palästinensischen Demonstranten weiter. Am Dienstag erschossen israelische Soldaten einen 25jährigen Palästinenser östlich des Deir al-Bureij Flüchtlingscamps. Ein Kugel traf ihn direkt in die Brust.
Im Gazastreifen wurden zuvor am Wochenende die Toten vom Freitag zu Grabe getragen. Nachdem israelische Soldaten beim „Großen Rückkehrmarsch“ über den Grenzzaun hinweg 17 Palästinenser erschossen hatten, fanden im ganzen Gazastreifen vom Norden bis zum Süden die Trauerfeierlichkeiten und Beerdigungen statt. Tausende begleiteten die Getöteten zum Grab und besuchten die Angehörigen in ihren Häusern, um zu kondolieren. Ganz Gaza trauerte. Nach Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministerium vom Sonntag wurden am Karfreitag während des Protestes von israelischen Scharfschützen 17 Palästinenser getötet und 1.479 verletzt, davon 805 durch scharfe Munition. Diese führte zu Verletzungen durch 154 Schüsse in den Kopf, 52 Schüsse in die Brust und den Rücken und 38 Schüsse in den Unterleib. 154 Palästinenser wurden durch gummiummantelte Stahlkugeln verwundet, 425 erlitten akute Atembeschwerden durch Tränengas und 95 mussten aus nicht bekannten Gründen ebenfalls in den Krankenhäusern Gazas behandelt werden.
Die Krankenhäuser, die wegen der Elektrizitätskrise im Gazastreifen schon bisher an der Grenze ihrer Kapazitäten arbeiteten, waren der hohen Zahl von zu versorgenden Verletzten kaum gewachsen. Die Operationssäle waren dauerhaft belegt, zumal 19 der Verletzten durch Schusswunden weiterhin in kritischem Zustand sind. Die Zahl der Toten kann also noch steigen. So starb am Dienstag ein 29jähriger an den Schussverletzungen, die er am Karfreitag erlitten hatte, womit sich die Zahl der Todesopfer zunächst auf 17 erhöhte. Mit dem 25jährigen, der gestern erschossen und inzwischen als Ahmad Omar Arafah identifiziert wurde, liegt die Zahl der durch die israelische Armee Getöteten nun bei 18 palästinensischen Demonstranten.
Israel plante Tötungen
Begonnen hatte es am Freitag damit, dass die israelische Armee am frühen Morgen einen 27jährigen Bauern im südlichen Gazastreifen mit Panzergranatenfeuer tötete, als er auf seinem Acker Petersilie für den Markt erntete. Die Armee gab später an, der Mann habe sich „verdächtig benommen“. Worin sich das angeblich verdächtige Verhalten äußerte, erklärte die Armee nicht. Ein Armeesprecher sagte, man wolle den Fall untersuchen. Der 27jährige Omar Wahid Sammour wurde noch am Freitagabend unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt.
Kurz nach dieser Erschießung des Bauern, begannen zehntausende Palästinenser von Süden bis Norden an insgesamt fünf Sammelstellen zum Grenzzaun des Gazastreifens zu gehen. Der größte Teil der Demonstranten versammelte sich an errichteten Zeltplätzen und beging den Tag mit Frauen und Kindern wie ein Festtag. Etliche vor allem junge Männer, aber auch vereinzelt junge Frauen, drängte es dagegen näher an den Grenzzaun, wo sie palästinensische Fahnen schwenkten, aber auch mit Steinen warfen oder Autoreifen verbrannten. Aufgrund der enormen Distanz zwischen den Demonstranten im Gazastreifen hinter der Pufferzone und den Soldaten außerhalb des Grenzzauns hinter Erdwällen, konnten die Steine keinem Soldaten gefährlich werden. Trotzdem eröffnete die israelische Armee das Feuer und tötete 18 Demonstranten.
Schon im Vorfeld hatte die israelische Armee klargestellt, dass sie von Toten bei der Demonstration ausgehe und öffentlich angekündigt, 100 Scharfschützen zusätzlich am Grenzzaun einzusetzen. Wer es wage, an den Grenzzaun zu kommen, werde beschossen, lautete die Anweisung für die Scharfschützen. Das israelische Kabinett beschloss für diese Fälle eine „Schießen-um-zu-Töten“-Richtlinie.
Um nach etwaigen Todesfällen der zu erwartenden Kritik zu begegnen, gab Israel an seine Top-Diplomaten weltweit vorab ein Argumentationspapier heraus, wie man der Kritik begegnen solle.
In dem Neun-Punkte-Papier wurde bereits vor Beginn der Demonstrationen festgehalten, dass die in Gaza de facto regierende Hamas für alles verantwortlich sei. Die Hamas würde 10 Millionen US-Dollar für diese Demonstration ausgeben und Menschen in Gaza dafür bezahlen, teilzunehmen. – Beweise für diese Behauptung wurden nicht genannt. – Im übrigen, so das Argumentationspapier, würde Israel weiterhin humanitäre Hilfe für Gaza leisten, indem man Waren, Elektrizität und Wasser reinlasse und Menschen die Einreise nach Israel aus medizinischen Gründen gestatte.
Fakten sprechen dagegen. Erst im Februar hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass im Gazastreifen im vergangenen Jahr 54 Menschen, darunter 48 Krebskranke, sterben mussten, weil Israel ihnen die Ausreise trotz flehentlicher Bitten verweigerte.
Todesschüsse erfolgten gezielt
Nachdem am Karfreitag insgesamt 18 Demonstranten getötet und über 1.400 verletzt wurden, versuchte die israelische Armee am Tag danach der weltweiten Kritik zu begegnen, indem man erklärte, ausschließlich auf Terroristen und gewalttätige Demonstranten geschossen zu haben. Dass die Armee genau wusste, dass sie dabei tödliche Gewalt einsetzte, ergab sich aus einem Tweet, den der Sprecher der israelischen Armee Samstagmittag ins Netz stellte. Dort brüstete sich die Armee: „Gestern sahen wir 30.000 Menschen; wir kamen vorbereitet und mit exakter Verstärkung. Nichts geschah unkontrolliert; alles war genau und angemessen, und wir wissen wo jede Kugel gelandet ist.“ Als die israelische Menschenrechtsorganisation B‘Tselem den Tweet im Netz verbreitete mit dem Hinweis, die israelische Armee habe also bewusst die 18 Demonstranten getötet, wurde der Tweet schnell wieder gelöscht.
Doch rückgängig machen ließ sich der Vorgang nicht mehr, die Aussage kursierte im Netz. Also bekräftigte die Armee ihre Behauptung, wonach lediglich terroristische Anstifter der Hamas getötet worden seien. Die Todesschüsse seien insofern eine legitime Reaktion gewesen. An der Richtigkeit dieser Behauptung kamen schnell Zweifel auf, nachdem mehrere Videos im Netz auftauchten, die das Gegenteil zeigten.
So konnte man auf einer Aufnahme einen einzelnen, unbewaffneten Mann sehen, der in sehr ruhigem Schritt, noch weit entfernt vom Grenzzaun, in Richtung Pufferzone schritt. Nach wenigen Meter streckten ihn Kugeln nieder, obwohl von ihm keine Gefahr und keine Gewalt ausging.
Auf einem weiteren Video sah man eine junge Palästinenserin, die ebenfalls weit vom Grenzzaun entfernt hin- und herlaufend eine palästinensische Fahne schwenkte. Auch sie wurde nach wenigen Schritten von Kugeln getroffen und brach zusammen.
Als besonders erschreckend erwies sich der Vorgang um die Erschießung eines 19jährigen unbewaffneten Palästinensers, der sich weit vom Grenzzaun befand und mit einem Reifen in der Hand einen Weg entlanglief, der von der Grenze wegführte. Kurz bevor der junge Mann, der als Abed al-Fatah Abed a-Nabi identifiziert wurde, andere Demonstranten erreichte, wurde er mit einem augenscheinlich gezielten Schuss in den Hinterkopf getötet und brach zusammen. Der Vorfall wurde gleich von mehreren Kameras eingefangen, und die Aufnahmen lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass hier nicht die geringste Rechtfertigung für eine Tötung vorlag.
Die israelische Armee reagierte auf diese Veröffentlichungen mit der pauschalen Behauptung, die Videos seien geschnitten und manipuliert. Die Hamas wolle Israel damit in ein schlechtes Licht rücken. Doch die Familie des getöteten 19jährigen a-Nabi ließ das nicht gelten. Der Junge habe keiner bewaffneten Gruppe angehört, erklärte sie. Auch sei von ihm keine Gefahr ausgegangen. „Er hatte keine Waffe, keinen Molotowcocktail, einen Reifen. Stellt das für Israel eine Gefahr dar, ein Reifen?“, fragte sein 22jähriger Bruder Mohamed. „Er bewegte sich auch nicht zur israelischen Seite hin. Er lief davon weg.“ Die Familie räumte ein, dass der 19jährige bei Protesten schon Steine geworfen hatte. „Sie warfen Steine, aber die Steine erreichten nie den Zaun“, so der 28jährige Bruder Alaa. „Einen Stein von unserem Land aus zu werfen, das ist eine Botschaft.“
Auch eine weitere Familie eines Getöteten, des 20jährigen Badr Sabbah, wies die Behauptungen der israelischen Armee zurück, wonach jeder Getötete gewalttätig gewesen sei. „Mein Bruder bat mich um eine Zigarette, ich gab sie ihm, er zog zweimal daran und dann schossen sie ihm in den Kopf,“ erzählte der 29jährige Bruder Mohammed der Washington Post. „Er war da gerade erst zehn Minuten zuvor eingetroffen.“
Am Ostermontag wurden zwei weitere Videos bekannt, auf denen zu sehen ist, wie ein junger Demonstrant, Tahrir Abu-Sabla, zunächst – weit entfernt vom Grenzzaun – einen Autoreifen auf einen bereits brennenden Reifen legt, und sich dann wieder zurückzieht. Mit dem Rücken zum Grenzzaun schwenkt er die Arme, als ihm von hinten in den Kopf geschossen wird.
UN und EU fordern unabhängige Untersuchungen
Noch am Abend des Karfreitag forderte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, eine „unabhängige und transparente Untersuchung“ der blutigen Vorgänge. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini schloss sich dieser Forderung am Samstag für die Europäische Union nachdrücklich an. „Während Israel das Recht hat, seine Grenzen zu schützen, müssen die eingesetzten Mittel immer verhältnismäßig sein“, so Mogherini. Gleichzeitig forderte Sie seitens der EU erneut „ein Ende der Blockade Gazas und die Öffnung aller Grenzübergänge, unter Berücksichtigung der legitimen Sicherheitsinteressen Israels“.
Dass es keine Untersuchung der Erschießung unbewaffneter Demonstranten geben würde, machte die israelische Regierung daraufhin sofort deutlich. Der Forderungen des UN-Generalsekretärs und der EU-Außenbeauftragte erteilten Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Avigdor Lieberman eine klare Absage. Netanyahu lobte die Todesschützen: „Gut gemacht, Soldaten“. Und Verteidigungsminister Lieberman erklärte im israelischen Radio, dass es keine Untersuchung oder eine Kooperation dazu von Israel in irgendeiner Art geben werde. „Vom Standpunkt der Soldaten, haben sie getan, was getan werden musste. Ich meine, dass alle unsere Einheiten eine Auszeichnung verdient haben.“
Dass sich Israel sicher sein kann, mit dieser Haltung durchzukommen zeigte sich schnell. Die Sitzung des UN-Sicherheitsrates am Freitagabend, um die Kuweit gebeten hatte, ging hinter verschlossenen Türen ohne Beschlussfassung zu Ende. Die Beschlussvorlage Kuweits sah vor, dass der Sicherheitsrat Israel auffordert, von exzessiver Gewalt abzusehen, und dass außerdem eine unabhängige Untersuchung wegen der 18 getöteten Palästinenser eingeleitet wird. Am Ostersonntag erfuhr die Öffentlichkeit dann, dass Israel sich für die Todesschüsse wohl kaum jemals verantworten muss. Wie ein Diplomat der Nachrichtenagentur AFP mitteilte, hatten die USA am Samstag den Sicherheitsratsmitgliedern gegenüber erklärt, dass sie die Beschlussforderungen ablehnen. Damit war die Vorlage vom Tisch.
„Alle Demonstranten sind legitime Ziele“
Im Windschatten dieser Protektion durch die USA kann Israel seine Tötungsaktionen fortsetzen, ohne befürchten zu müssen, dafür international zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Erschießung des 25jährigen Palästinensers am Dienstag zeigt, dass Israel trotz aller Kritik auch nicht bereit ist, auf die Tötung von unbewaffneten Demonstranten zu verzichten.
Wie schlimm das noch werden kann, ließ der Sprecher von Netanyahus Likud Partei, Eli Hazan, Montagabend im israelischen Fernsehen durchblicken, als diskutiert wurde, ob man auf friedliche Demonstranten schießen darf. „Alle 30.000 Demonstranten sind ein legitimes Ziel“ erklärte Hazan vor laufender Kamera. Auch als der Moderator ungläubig nachhakte, blieb der Likud-Sprecher dabei: „Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Alle 30.000 sind ein legitimes Ziel. Das ist klar und sollte klar sein.“ Der ins Studio zugeschaltete Yariv Oppenheimer, Vorstandsmitglied von „Peace Now“, einer israelischen Nichtregierungsorganisation, die sich für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt, hatte dazu nur einen Kommentar: „Das ist Wahnsinn“, sagte er entsetzt.
Die EU Vertretung in Gaza und der Westbank zeigte sich derweil am Mittwoch in einer Erklärung „im höchsten Maße alarmiert“ über die Verwendung von scharfer Munition zum Zwecke der Kontrolle von Massenprotesten. „Die EU appelliert erneut an Israel, auf Demonstrationen mit Mitteln der Verhältnismäßigkeit zu reagieren, höchste Zurückhaltung beim Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung des Rechts zu wahren, geeignete Untersuchungen nach jeder Tötung einzuleiten und, wo geboten, Strafverfolgungen einzuleiten.“
Am heutigen Donnerstag wird die israelische Menschenrechtsorganisation B‘Tselem eine Anzeigenkampagne starten mit dem Slogan: „Tut mir leid, Kommandant, ich kann nicht schießen“. In den Anzeigen werden israelische Soldaten aufgefordert, Befehle zum Erschießen von unbewaffneten Demonstranten zu verweigern. Nach dem israelischen Rechtssystem haben Soldaten die Pflicht, die Ausführung offenkundig illegaler Befehle abzulehnen. Der Befehl, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen, so B‘Tselem, sei eine solche Anordnung. Sie sei auch vor dem Hintergrund geltenden internationalen Rechts „eindeutig kriminell“.
Am Freitag soll es erneut zu Demonstrationen im Gazastreifen kommen. Israel hat ungeachtet der weltweiten Proteste angekündigt, mit noch größerer Härte vorzugehen, sollten sich Demonstranten erneut dem Grenzzaun nähern. Was genau mit „nähern“ gemeint ist, erklärte man nicht.
Im Originalbeitrag auf Palästina Nachrichten weitere Fotos und Videos.