Auch die Mainstream-Leitmedien berichten:
- „Israel debattiert über Video von Schuss auf Palästinenser“ (Spiegel-online v. 10.04.2018)
- Israelische Soldaten bejubeln Schuss auf Palästinenser (NZZ v. 10.04.2018)
Hier der ausführliche Bericht von Palästina Nachrichten PN v. 10.04.2018).
Mit einem am Montagabend auf sozialen Medien verbreiteten Video ist die Behauptung der israelischen Armee widerlegt, Israel schieße am Grenzzaun zu Gaza nur auf „bewaffnete Terroristen“ und „gewalttätige Unruhestifter“. Auf dem Video ist zu sehen, wie einem Palästinenser, der unbewaffnet und völlig regungslos im Grenzbereich steht, von einem israelischen Scharfschützen unter lautem Jubel seiner Kollegen in den Kopf geschossen wird.
Das Video tauchte am Montagabend zuerst auf WhatsApp auf und wurde dann von israelischen Medien aufgegriffen und weiterverbreitet.
In dem Video, das augenscheinlich durch ein Fernglas gefilmt wurde, ist zu sehen, wie sich drei Palästinenser dem Grenzzaun nähern. Zwei hocken sich hin, ein anderer bleibt aufrecht regungslos stehen.
„Hast Du eine Kugel in der Kammer“, will der filmende Soldat wissen. „Hältst Du auf ihn?“– „Ja“, erwidert der Scharfschütze und beklagt sich anschließend, dass sich der Palästinenser hinhockt und ihm der Stacheldraht die Sicht versperrt.
„Beseitige den in Rosa“, weist ihn der filmende Soldat an. „Nicht Rosa“, erwidert der Scharfschütze. „Ich halte auf den in Blau.“ Im nächsten Moment fällt ein Schuss, und der aufrecht stehende Palästinenser fällt getroffen zu Boden.
„Wow, was für ein Video!“, brüllt begeistert der filmende Soldat. „Ja!!! – Dieser Hurensohn.“
Dann beobachten die Soldaten, wie auf der anderen Seite des Grenzzauns unzählige Menschen angerannt kommen, um den Niedergeschossenen zu bergen.
„Donnerwetter, hab ihn in den Kopf getroffen“, kommentiert der Scharfschütze zufrieden. „Was für ein fantastisches Video“, erwidert sein Kollege zufrieden, während er weiter filmt, wie auf der anderen Seite des Zauns der Niedergeschossene weggetragen wird.
„Er flog in die Luft mit seinen Beinen wie …“ lacht der Scharfschütze begeistert.
„Hurensöhne“, ergänzt zufrieden der filmende Soldat und beendet die Aufnahme.
Entsetzen über Brutalität
Nachdem das Video über die israelischen Medien verbreitet wurde, zeigten sich israelische Oppositionspolitiker schockiert von den Aufnahmen. Ayman Odeh, Vorsitzender der Arabischen Gemeinsamen Liste, forderte, der Scharfschütze und sein filmender Kollege müssten vor Gericht gestellt werden. „Ein Video, das einen entsetzt. Freudengeschrei darüber, ein Menschenleben zerstört zu haben und über etwas, das eine Hinrichtung zu sein scheint von jemandem, der niemanden bedroht hat“, schrieb er auf Twitter.
Sein Parteikollege Ahmad Tibi mokierte sich über die Behauptung, die israelische Armee sei „die moralischste Armee der Welt“, wie es der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ohne Unterlass behauptet. „Die Scharfschützen morden, die Truppe kichert und die Araber sterben. Hier ist ein weiterer Mord eines unbewaffneten Bewohners von Gaza durch die israelische Armee.“ Auch er verlangte eine Untersuchung des „grausigen“ Vorgangs.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem sah sich in ihren früheren Vorwürfen bestätigt, dass die israelische Armee „illegal den Soldaten den Befehl gibt, auf Menschen zu schießen, die für niemanden eine Gefahr darstellen.“ Vorfälle, wie in diesem Video dokumentiert, so B’Tselem, hätten sich in den letzten Wochen „hunderte Male“ ereignet und Tod und Verletzungen zur Folge gehabt – „mit voller Unterstützung der politischen Entscheidungsträger und ranghöchster Militärs“.
Im übrigen, so B’Tselem, zwinge einen das Video der Erschießung eines unbewaffneten Palästinensers dazu, sich mit der „Realität der Besatzung“ zu beschäftigen. „Es ist unmöglich, Millionen von Menschen gegen ihren Willen zu kontrollieren, ohne moralisch zu verkommen“, schrieb B’Tselem.
Die israelische Armee gab zunächst nur an, man werde den Vorgang untersuchen. Er habe sich aber augenscheinlich schon vor Monaten ereignet.
Breaking the Silence, eine weitere israelische Menschenrechtsorganisation, die aus ehemaligen Rekruten der israelischen Armee besteht, bewertete das als lächerlich. „Es ist nicht von vor einigen Monaten; so geht das schon seit 51 Jahren“, konterte Breaking the Silence auf Twitter.
Israelische Regierung lobt Todesschützen
Der israelische Bildungsminister Naftali Bennett verteidigte die Soldaten auf dem Video. Ohne mit einem Wort auf die Erschießung des Palästinensers einzugehen, mokierte er sich darüber, dass man sich über die „unelegante“ Sprache aufrege. „Wir beurteilen Soldaten jetzt anhand der Qualität dessen, was sie sagen, und ob es schön klingt oder nicht?“, sagte er im Armeeradio. „Ernsthaft?“ Später schrieb er auf Twitter: „Die Soldaten beschützen unser Leben. Wir beschützen sie. Wir lassen Soldaten nicht im Stich.“
Gilad Erdan, Minister für öffentliche Sicherheit und der Likud Partei des Ministerpräsidenten angehörend, unterstützte die Soldaten im israelischen Radio ebenfalls. „Ich kann nicht begreifen, was an diesem Video nicht ok ist“, sagte er. Aus dem fernen Tel Aviv könne man „menschliche Reaktionen“ nicht bewerten. Es wäre besser gewesen, die erfreute Reaktion der Soldaten wäre nicht in Umlauf geraten, so Erdan, „aber sie zu verurteilen und zum dem Schluss zu kommen, hier sei etwas verkehrt, ist verrückt.“
Der Minister für Wissenschaft, Technologie und Raumfahrt, Ofir Akunis, räumte dagegen im israelischen Radio ein, dass selbstverständlich solche Dinge nicht geschehen sollten und dies ganz sicher Israels Ansehen beschädigen werde. Die diplomatische Arbeit Israels sei schwierig, fast unmöglich, sagte er. Hingegen wisse man ja nicht, was für Motive der Niedergeschossene hatte. „Ich bin sicher, er war kein unschuldiger Zivilist“, ergänzte er.
Vorläufige Untersuchung spricht Todesschützen frei
Nur wenige Stunden, nachdem das verstörende Video im Netz auftauchte, hat die israelische Armee am Dienstag das Ergebnis einer vorläufigen Untersuchung dazu bekanntgegeben. Demnach ereignete sich der Vorfall am 22. Dezember 2017 während Freitagsdemonstrationen im Gazastreifen. Man habe mit Lautsprechern versucht, die Demonstranten zu stoppen, und habe in die Luft geschossen. „Als all das nicht half, wurde eine einzige Kugel gegen jemanden abgefeuert, der im Verdacht stand, die Proteste organisiert und angeführt zu haben. Im Ergebnis kam es zu einer Verletzung im Bein.“
Dieses Aussage steht im krassen Kontrast zu dem, was man im Video sehen kann. Dort lauern die israelischen Soldaten leise den sich auf der anderen Seite des Zaunes bewegenden Palästinensern auf, und der Scharfschütze schoss ohne Vorwarnung. Danach triumphierte er, er habe dem Mann in den Kopf geschossen.
Am Ende der vorläufigen Untersuchung kommt die israelische Armee zu dem Schluss, dass der Scharfschütze völlig korrekt gehandelt habe. Allerdings habe man auch festgestellt, dass der sich im Video so begeistert äußernde Soldat mit seinem Verhalten unkorrekt gehandelt habe. Gegen ihn würden Disziplinarmaßnahmen eingeleitet.
Die Erschießung eines unbewaffneten, ruhig stehenden und keine Gefahr darstellenden Palästinensers war nach Ansicht des israelischen Militärs demnach korrekt. Seine Freude darüber so öffentlich kundzutun, dass es Israels Ansehen in der Öffentlichkeit beschädigen kann, war dagegen ein nicht zu akzeptierendes Fehlverhalten.
Warnung des Internationalen Strafgerichtshofs
Mit Aufmerksamkeit dürfte dies Fatou Bensouda zur Kenntnis nehmen. Die Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) hatte angesichts der erneuten Tötungen von Palästinensern bei den Freitagsprotesten am Samstag eine Erklärung abgegeben und warnend in Richtung Israel darauf hingewiesen, dass derzeit ein vorläufiges Ermittlungsverfahren beim ICC wegen der Situation in Palästina geführt würde. Sie habe mit großer Sorge die Gewalt beobachtet, bei der mindestens 27 Palästinenser durch die israelische Armee getötet wurden. Gewalt gegen Zivilisten, so Bensouda, in einer Situation wie in Gaza, könne eine Straftat im Sinne der Römischen Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs darstellen. „Mein Büro wird weiterhin die Situation sehr genau beobachten und wird jeden Vorfall registrieren, bei dem es zu Aufwiegelungen oder Anwendung illegaler Gewalt kommt.“
Das nun aufgetauchte Video und die Erklärungen der israelischen Armee und Regierung, dass die Erschießung eines unbewaffneten Mannes, von dem keine Gefahr ausgeht, in Ordnung ist, dürfte für Chefanklägerin Bensouda ein wichtiges Beweismittel im laufenden Ermittlungsverfahren gegen Israel sein.