Kritik an Israels Politik!? – Die Kampagne gegen Jeremy Corbyn

Titelblatt Jewish Chronicle v. 20.07.2018

Es ist gut möglich, dass die rücktrittsgeplagte konservative britische Regierung bereits im Herbst auseinanderbricht und es schon bald Neuwahlen im Vereinten Königreich gibt. Zynisch könnte man sagen: dies ist ein guter Zeitpunkt für die Heckenschützen des rechten Labour-Flügels, die mit ihren bisherigen Putschversuchen gegen den beliebten Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn scheiterten. Doch der aktuelle Putschversuch ist selbst für britische Verhältnisse besonders schmutzig – es geht um Antisemitismus, Israel-Kritik und Corbyns Weigerung, eine umstrittene Antisemitismus-Definition zu übernehmen, die ihn selbst als Antisemiten abstempeln würde. Sämtliche großen Medien sind wieder einmal auf der Seite der Putschisten. Doch Corbyn kann wieder einmal auf seine Unterstützer und die Sozialen Netzwerke setzen, in denen sich eine prächtige Gegenöffentlichkeit für ihn stark macht und ihm so den Freiraum gibt, sich gegen die Schmutzkampagne zur Wehr zu setzen. Von Jens Berger.
Dass Jeremy Corbyn sich gegen Antisemitismus-Vorwürfe zur Wehr setzen muss, ist nicht neu. Schließlich sitzt er seit 1983 als Abgeordneter im britischen Unterhaus und hat sich als solcher auch mehrfach kritisch mit der Politik Israels auseinandergesetzt. In einem Umfeld, in dem Kritik an Israel oder dem Zionismus oft mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, bleibt es da wohl nicht aus, auch einmal ins Visier derer zu geraten, die sich den Antisemitismus-Begriff gerne für ihre politischen Ziele zurechtbiegen. Über bloße „Kontaktschuld-Vorwürfe“ gingen die bisherigen Attacken jedoch meist nicht hinaus und stellten daher für Corbyn auch keine große Bedrohung dar. Dies könnte sich nur dann ändern, wenn Labour die Definitionshoheit des „Antisemitismusbegriffs“ aus der Hand gibt und den Begriff selbst so vage definiert, dass legitime Kritik an der Politik Israels plötzlich als antisemitisch gilt; dann wäre Corbyn per Definition nämlich plötzlich selbst Antisemit und als Parteivorsitzender nicht mehr haltbar. Genau diese Strategie wurde vom rechten Parteiflügel gewählt.

Weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit haben sich im letzten Jahr 31 Staaten einer „Arbeitsdefinition“ des „Antisemitismus-Begriffs“ angeschlossen, die von der internationalen Organisation IRHA erarbeitet wurde – darunter auch Deutschland und Großbritannien. Das Problem mit der IRHA-Antisemitismusdefinition ist auch gar nicht die Arbeitsdefinition selbst, sondern die elf Beispiele, die die Autoren zur „Veranschaulichung“ an die Definition angehängt haben. Dort ist dann von „den Juden als Volk“ anstatt der jüdischen Religionsgemeinschaft die Rede und plötzlich geht es vor allem um Israel, das in der Arbeitsdefinition selbst gar nicht auftaucht. Kritik an israelischem Rassismus wird dabei als „Aberkennung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ umgedeutet und „Vergleiche“ israelischer Politik mit der Politik der Nationalsozialisten werden ebenfalls als Beispiel für Antisemitismus genannt.

Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Beispiele zur „Arbeitsdefinition“ nicht nur von linken jüdischen Verbänden, sondern auch von Antisemitismusexperten und angesehenen Juristen scharf kritisiert wurden. Der berühmte Menschenrechtsanwalt Hugh Tomlinson bezeichnete die Arbeitsdefinition und die Beispiele bei einer Anhörung vor dem Oberhaus als „unklar“ und „konfus“ und äußerte größte Zweifel daran, dass diese Definition wirklich hilfreich sein kann. David Feldman, seines Zeichens Direktor des Pearls Institute for the Study of Antisemitism kritisierte die Ungenauigkeit der Arbeitsdefinition und die Ausweitung der Definition auf das Thema „Israel“ in den Beispielen. Den Israel-Bezug kritisiert auch der Oxford-Professor und ehemalige Berufungsrichter Stephen Sedley. Mittlerweile warnt selbst einer der Autoren der „Arbeitsdefinition“, der US-Anwalt und Antisemitismus-Experte Kenneth S. Stern vor dem Ergebnis seiner Arbeit – diese sei besonders an US-Universitäten missbraucht worden, um die Meinungsfreiheit einzuschränken und insbesondere pro-palästinensische Positionen zu unterdrücken.

Diese selbst unter Experten mehr als umstrittene „Arbeitsdefinition“ sollte nun also nach dem Willen der Corbyn-Gegner auch von der Labour Party offiziell übernommen werden. Selbstverständlich ging es dem rechten Parteiflügel dabei nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus, sondern um die Bekämpfung des eigenen Vorsitzenden, der nach den kruden Beispielen dieser „Arbeitsdefinition“ wohl selbst unter Antisemitismusverdacht geraten würde. So hatte Corbyn früher mal auf einer Demonstration zur Verurteilung der mörderischen israelischen „Operation Gegossenes Blei“, also der Bombardierung des Gaza-Streifens 2008/2009, in einem Nebensatz auch die Belagerungen von Leningrad und Stalingrad genannt – jedoch nur, um auf die Qualen der Belagerten hinzuweisen und nicht um die Belagernden gleichzusetzen. Dies könnte man getreu der Beispiele zur IHRA-Arbeitsdefinition dann mit boshaftem Vorsatz als „antisemitisch“ brandmarken und ein Antisemit wäre als Parteivorsitzender nicht mehr tragbar. Doch Corbyn erkannte natürlich die Falle und der Labour-Vorstand weigerte sich, die gesamte Definition anzunehmen. Man erkannte stattdessen die Arbeitsdefinition selbst und sieben der elf Beispiele an, ließ vier besonders strittige Beispiele aber bewusst außen vor und wollte das Thema künftig zusammen mit einer parteiinternen Expertenkommission prüfen.

Dies brachte Corbyns Gegner auf die Barrikaden. Zusammen mit den – wie gleichgeschaltet wirkenden – Medien brach bereits im Juli eine Schmutzkampagne los, die selbst in Großbritannien ihresgleichen sucht. Angefangen hatte die jüngere Version der Kampagne durch eine abgesprochene Anti-Corbyn-Protestaktion dreier jüdischer Zeitungen, deren Journalisten die Sache übrigens ganz anderes sehen. Dies war jedoch nur die Initialzündung. Vom rechten Gossenblatt Sun bis hin zum linksliberalen Guardian prügelte man auf Corbyn ein und selbst deutsche Blätter machen bei der Kampagne fröhlich mit und scheuen sich dabei nicht, Fake News zu verbreiten – so behaupten beispielsweise FAZ und WELT, Labour weigere sich, die „Arbeitsdefinition“ der IHRA zu übernehmen. Doch das ist falsch, Labour hat die Definition sehr wohl übernommen, erkennt nur vier der elf angehängten Beispiele nicht an. Und das ist nur ein Fake-News-Beispiel von unzählig vielen, die man offenbar vor allem gerne in „Meinungsartikeln“ konservativer jüdischer Funktionäre „versteckt“. Die Zielrichtung ist klar und die Trittbrettfahrer treffen in den Redaktionen offenbar auf offene Arme.

Doch Corbyn blieb bislang standhaft und brachte damit seine Gegner erst recht auf die Palme. Margaret Hodges, eine mit unzähligen Orden und Adelstiteln versehene ehemalige Ministerin unter Gordon Brown, die schon einmal gegen Corbyn putschte, nannte ihn einen „sch**ß Rassisten und Antisemiten“, der Parteivize Tom Watson, auch er unter Brown Minister und bekennender Putschist, drückte im Guardian mächtig auf die Emotionen, fabulierte etwas von der „ewigen Schande“, die der Antisemitismus unter Corbyn der Partei zufügen würde und forderte ihn auf, sofort tätig zu werden. Das tat Corbyn – jedoch ganz und gar nicht im Sinne der Putschisten. In einem aufsehenerregenden Gastartikel im Guardian meldete sich Jeremy Corbyn am letzten Freitag selbst zu Wort und schaffte wortreich das Kunststück, gleichzeitig ein glasklares Statement gegen den Antisemitismus abzugeben, ihn aber auch trennscharf von gerechtfertigter Kritik an der Politik Israels zu isolieren.

Damit dürfte die Debatte noch lange nicht vorbei sein, doch abseits des medialen Mainstreams ist sie längst umgeschlagen. In den alternativen Medien und den Sozialen Netzwerken zieht spätestens seit diesem Wochenende ein Orkan auf, der sich auch gegen die Putschisten richtet. Neben dem Hashtag #wearecorbyn ist der Hashtag #TomWatsonResign, mit dem Corbyns Anhänger den putschenden Parteivize zum Rücktritt drängen wollen, binnen weniger Stunden zu einem der meistgenutzten Hashtags in Großbritannien und sogar international geworden. Zehn- oder gar hunderttausende Solidaritätsbekundungen folgten auf den Sozialen Netzwerken und konnten binnen Stunden auch zahlreiche schwankende Labour-Funktionäre wieder „auf Linie bringen“. Wie beim letzten Putschversuch haben sich die Sozialen Netzwerke einmal mehr als mächtige Antwort auf die Einheitsfront der Massenmedien erwiesen, deren Wirkmächtigkeit sich in Großbritannien mittlerweile rasant auflöst.

Vor der Kampagne war Labour in allen Umfragen deutlich vor den konservativen Tories[*]. Ob die Antisemitismus-Schmutzkampagne dies nachhaltig ändern kann, wird sich zeigen; hier sind jedoch zum Glück Zweifel angebracht. Dennoch ist anzunehmen, dass die Schmutzkampagne für die Wahlen nicht folgenlos bleiben wird. Vor allem ältere Briten, die sich vor allem über die traditionellen Medien informieren, könnten durch das Sommerlochtheater gegen Labour und Corbyn in Stellung gebracht werden – aber die gehören ohnehin nicht zum eigentlichen Klientel Corbyns, der wie kaum ein anderer Politiker auf dieser Welt vor allem von der Generation U50 gewählt wird. Ärgerlich ist jedoch, dass die komplett unnötige Antisemitismus-Debatte nun andere Themen verdrängt – in den klassischen Medien wird nichts mehr vom katastrophalen Gesundheitssystem gebracht und selbst die überschaubare Performance der Brexit-Verhandler ist erst mal kein Thema mehr … aber das wird sich bald wieder ändern, Antisemitismus-Debatten werden zwar meist mit aller Härte und vielen Emotionen geführt, sind aber auch schnell wieder vorbei.


[«*] Dabei ist nicht zu vergessen, dass die schottische SNP als Labour-Partner zahlreiche schottische Wahlkreise beisteuert und Labour sogar – je nach Modell – mit 2% bis 5% weniger Stimmen die Regierungsmehrheit erreichen würde.

Quelle (mit freundlicher Genehmigung): NachDenkSeiten v. 07.08.2018

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