Deutschland stellt sich gegen den Internationalen Strafgerichtshof

Foto: Netanjahu und Merkel bei einer Pressekonferenz 18.1.10, Quelle: Israelisches Auswärtiges Amt

Steht Deutschland wieder auf der falschen Seite der Geschichte?
Ein offener Brief von Rolf Verleger und ein Kommentar von Gideon Levy

Zusammenfassung: Der Vorsitzende unseres BIP, Prof. Dr. Rolf Verleger, kritisiert in einem offenen Brief an die deutsche Regierung ihre Entscheidung, sich der Untersuchung israelischer Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof zu widersetzen. Der israelische Journalist Gideon Levy sieht eine beunruhigende historische Parallele darin, dass sich die deutsche Regierung erneut auf die Seite der Täter stellt.Diese Woche stellen wir Ihnen zwei Texte vor. Der erste ist ein offener Brief des Vorsitzenden unseres BIP Prof. Dr. Rolf Verleger. Der zweite ist ein Artikel von Gideon Levy in Haaretz vom 16. Februar.

Juristischer Hintergrund

Hintergrund der beiden Texte ist die Entscheidung der deutschen Regierung, das Recht der Palästinenser auf Schutz durch den Internationalen Strafgerichtshof nicht anzuerkennen.

Im Dezember 2014 unterzeichnete der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und sprach diesem somit Gerichtsbarkeit über das besetzte Westjordanland und den Gazastreifen zu. Das Recht dazu hatte Abbas seit 2012 durch die Anerkennung Palästinas als Beobachterstaat bei der UN durch die UN-Generalversammlung (138 Länder dafür, 9 dagegen, 41 Enthaltungen, darunter Deutschland). Voruntersuchungen durch die IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda dauerten fünf Jahre. Am 20. Dezember 2019 stellte sie den offiziellen Antrag auf Einleitung eines Gerichtsverfahrens gegen Israel und gegen die Hamas-Partei wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere während des israelischen Einmarsches in den Gaza-Streifen im Juli/August 2014, außerdem durch israelische Besiedlung des besetzten Westjordanlands und durch die Tötung von über 200 unbewaffneten Demonstranten aus Gaza durch die israelische Armee seit März 2018.

Israel verweigert den Palästinensern das Recht auf Souveränität und bestreitet daher die Zuständigkeit des IStGH. Israel selbst hat die Römischen Statuten nie unterzeichnet. Netanjahu beschuldigte den IStGH des Antisemitismus. Die Hamas-Partei begrüßte die Entscheidung und versprach, bei den Ermittlungen zu kooperieren.

Nachdem es Netanjahu nicht gelungen war, die Gäste der Zeremonie zum Gedenken an 75 Jahre Befreiung von Auschwitz in Yad Vashem davon zu überzeugen, eine gemeinsame Erklärung gegen den IStGH abzugeben, beschlossen vier Staaten, die israelische Position zu unterstützen, dass Palästinenser nicht das Recht hätten, dem Römischen Statut beizutreten, und dass das Gericht nicht zuständig sei: Deutschland, Österreich, Tschechien und Ungarn. Sie traten an das Gericht mit der Bitte heran, dem Verfahren als „Freunde des Gerichts“ beizuwohnen – machten dabei aber deutlich, dass das Verfahren wegen Unzuständigkeit des IStGH eingestellt werden sollte.

Brief von Rolf Verleger als Vorsitzender des Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) vom 15.2.2020

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel, sehr geehrter Herr Außenminister Maas,
die Zeitung Haaretz vom 14.2.2020 meldet, dass Deutschland die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (ICC) für die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete abstreitet.

Sollte dies zutreffen, erklärt unsere Bundesregierung damit, dass mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen in diesen Gebieten vom ICC nicht untersucht werden dürfen, dass also der ICC – den alle Bundesregierungen in der Tradition der Nürnberger Prozesse nachhaltig gefördert haben – seiner ureigensten Aufgabe der Untersuchung völkerrechtlicher Verbrechen nicht nachgehen kann.

Das steht in tiefem Widerspruch zu allen bisherigen Bekenntnissen zur strafrechtlichen Verantwortung und zum Völkerrecht. Damit geben Sie Israel einen Freibrief, seine Politik der Besatzung und der Menschenrechtsverletzungen weiter zu betreiben. Was das konkret für die Menschen dort bedeutet, hat die UN-Organisation OCHAOPT in ihrem letzten Monatsbulletin wieder einmal dargestellt, für die letzten zehn Jahre.

Sie erreichen damit dreierlei:

  1. Sie fördern palästinensische Militanz. Denn wenn Abbas‘ Versuch, mit diplomatisch-juristischen Mitteln palästinensische Belange durchzusetzen, an der „westlichen Wertegemeinschaft“ scheitert, dann bekommen selbstverständlich Kräfte Aufwind, die den bewaffneten Kampf predigen.
  2. Sie fördern die Unterstützung für BDS. Über den Sinn und die Effektivität dieser Bewegung gibt es verschiedene Meinungen. Aber es dürfte klar sein, dass Ihr Bestreiten der ICC-Zuständigkeit dieser Bewegung Aufschwung gibt. Denn wenn unsere Regierung nicht imstande – und offenbar vor allem nicht willens – ist, den Menschenrechten zu ihrem Recht zu verhelfen, welche Alternative jenseits vom Versuch der Einflussnahme auf Regierungshandeln gibt es denn noch, um den Unmut über diese Ungerechtigkeiten auszudrücken und um Druck zur Veränderung aufzubauen?
  3. Sie fördern Antisemitismus. Denn Ihre Entscheidung wird vielerorts so wahrgenommen werden, dass „die Juden“ (wenn man denn den Staat Israel auf diese 80% seiner Bevölkerung reduzieren will) „mal wieder eine Extrawurst bekommen“.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Außenminister Maas, ich schreibe Ihnen dies nicht nur als Sohn von jüdischen KZ-Überlebenden aus einer schwer traumatisierten Familie, sondern auch aus meiner sich daraus herleitenden Position als Vorsitzender des Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP):

Gedenkreden, die allenthalben zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz zu hören waren, sind schön und gut; aber wenn daraus folgen würde, dass nicht mehr die Herrschaft des Rechts gelten soll, wenn es um Menschenrechtsverletzungen von Juden an Palästinensern geht, dann läuft etwas falsch bei Deutschlands Umgang mit den Verbrechen der Nazi-Herrschaft.

Konkret stellt sich hier die Frage: Bedeutet die Absage an Ermittlungen des ICC, dass die Bundesregierung die Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrates vom 23.12.2016, das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9.7.2004 sowie den Beschluss der UN-Vollversammlung vom 29.11.2012 für völkerrechtlich irrelevant hält? Für eine Klarstellung sind wir Ihnen dankbar.

Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Rolf Verleger

Quelle (mit freundlicher Genehmigung): www.bip-jetzt.de

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