Jeff Halper: Drei bittere Wahrheiten zum Israel-Palästina-Konflikt

Hier ein vollständiger Audio-Mittschnitt mit Übersetzung (120 Min.) der Veranstaltung

Der letzte Abend im Begleitprogramm für die Nakba-Ausstellung in der Zentralbibliothek Bremen war wieder ein großer Erfolg und der Wallsaal bis auf den letzten Platz besetzt. Der Referent des Abends war Jeff Halper, der von Claus Walischewski kurz vorgestellt wurde: Halper ist ein in Minnesota geborener amerikanisch-jüdischer Professor für Anthropologie, der seit 40 Jahren isralischer Staatsbürger ist. Er ist Gründer und unangefochtener Chef der Organisation „Israeli Comittee Against House Demolition“ (ICAHD). Er hat sich bei verschiedenen Aktionen oft vor die Planierraupen gesetzt und ist acht mal verhaftet worden. „Wenn ich Palästinenser wäre, hätte ich um mein Leben fürchten müssen“, war sein Kommentar, „aber als Israeli wird man festgenommen und relativ schnell wieder auf freien Fuß gesetzt.“ Claus Walischewski appellierte an die Zuhörer und Zuhörerinnen, reichlich zu spenden und gab den Termin für das kommende „Rebuilding Camp“ vom 19. Juni bis zum 3. August 2015 bekannt, an dem sich Aktivisten beteiligen können.

Auch wer sich schon gründlich mit der ebenso komplizierten wie komplexen Materie des Nahost-Konflikts auseinander gesetzt hat, konnte an diesem Abend noch viel lernen: nämlich wie es möglich ist, den Konflikt wirklich auf das Wesentliche zu reduzieren, um ihn im Kern verstehen zu können. Dazu nötig waren einige Landkarten, einige Fotos, eine Menge Humor (!) und eine bewunderswerte Klarheit und Einfachheit in der Entwicklung der Problematik. Das amerikanische Englisch des Referenten war sehr gut zu versteheh; und das Referat wie auch die anschließende Diskussion wurden wieder sehr kompetent von Doris Flack und Claus Walischewski übersetzt.

Es sind, so Jeff Halper, drei bittere Wahrheiten, auf die sich der Konflikt reduzieren lässt.

1.     Die Zwei-Staaten-Lösung wäre ganz einfach möglich gewesen

Als Ergebnis der israelisch-arabischen Kriegen von 1949 und 1967 wurde das historische Palästina entlang der „grünen Linie“ geteilt: die Israelis erhalten 78 Prozent und die Palästinenser 22 Prozent des Landes. Im Jahr 1988, also vor nunmehr 27 Jahren, erklärte die PLO sich bereit, die Waffenstillstandslinie von 1967 als die Grenze zwischen dem Staat Israel und dem neuen Staat Palästina anzuerkennen. Obwohl die Palästinenser die Mehrheit der Bevölkerung bildeten und nach der Rückkehr vieler Flüchtlinge die Mehrheit noch größer geworden wäre, waren sie bereit, mit Israel in Friedensverhandlungen einzutreten und sich mit nur 22 Prozent des Landes zufrieden zu geben. Es war ein überaus großzügiges Angebot, um das unerträgliche Besatzungsregime zu beenden. Im März 2002 wurde dieser Plan als „Arabische Friedensinitiative“ einstimmig von der Arabischen Liga und im Juni 2002 einstimmig von allen 57 Mitgliedern der Organisation Islamischer Staaten, einschließlich des Irans, übernommen. Israel wurde der Frieden, die Anerkennung und eine Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen angeboten, wenn es sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht und seinerseits einen unabhängigen palästinensischen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt anerkennt. Der Vorschlag für diese Zwei-Staaten-Lösung wurde von den USA, Deutschland, der EU und schließlich von der gesamten Staatengemeinschaft unterstützt. Eine vom Völkerrecht abgesicherte und von der Staatengemeinschaft unterstützte Lösung des Nahost-Konflikts wäre möglich gewesen und ist immer noch möglich.

Nur ein Land lehnte ab: Israel. Es sagte 1988 und 2002 kompromisslos „nein“ zu den Vorschlagen und war nicht einmal zu Verhandlungen bereit. Am Abend vor der Wahl zur Knesset am 17. März 2015 hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu es noch einmal so deutlich wie noch nie zuvor erklärt: „Es wird keinen palästinensischen Staat geben.“

2.     Israel schafft „facts on the ground“

Für die Ablehnung dieses Israel begünstigenden Angebots gibt es nur einen Grund, der aber von Israel niemals offen genannt wurde: Israel will das gesamte historische Palästina vom Mittelmeer bis zu Jordan als Land für das jüdische Volk. Jeff Halper: „Wenn du 100 Prozent des Landes bekommen kannst, weil du die Macht dazu hast, warum einen Kompromiss schließen über 78 Prozent?“ Als Anthropologe wäre er, so Halper, daran gewöhnt, die Dinge von unten zu betrachten und nicht den Äußerungen von Politikern zu vertrauen. Israel betreibe seit Jahrzehnten eine Politik der vollendeten Tatsachen („facts on the ground“). Es wären bislang – gegen jedes Völkerrecht – in den besetzten Gebieten über 200 Siedlungen (die z.T. inzwischen große Städte sind) gebaut worden, in denen jetzt 600.000 Israelis lebten. In vier Jahren würden es eine Million sein. Über 28 Autobahnen würden die Siedlungen miteinander und mit Israel fest verbunden. Die palästinensische Bevölkerung sei eingeschlossen in voneinander getrennte Inseln und aus dem Gebiet der „Zone C“ fast vollständig vertrieben worden. Den Palästinensern verbliebe heute faktisch nur noch 38 Prozent der 22 Prozent ihres besetzten Landes, das dazu noch fragmentiert wäre in mehr als 70 kleine Inseln, die von Checkpoints (insgesamt 600) kontrolliert würden. Das, so Halper, wären die „facts on the ground“. Sie machen klar, dass Israel eine Zwei-Staaten-Lösung nicht will.

Falls noch jemand an dieser Absicht Zweifel hege, sei zusätzlich die Mauer gebaut worden –  „der letzte Nagel im Sarg der Zwei-Staaten-Lösung“. Bei allem Respekt für die Mauer, die Deutschland geteilt habe, so Jeff Halper voller Ironie: „Eure Mauer war vier Meter, unsere ist acht Meter hoch. Unsere Mauer ist auch fünf Mal so lang und geht im Zickzack durch das Land.“ Ein Blick auf die Landkarte zeige, dass die Mauer in Israel „nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit Sicherheit und Selbstverteidigung, sondern nur die Absicht verfolgt, den Palästinensern das Leben in der Zone C unerträglich zu machen“.

3.     Israel und die besetzten Gebiete sind tatsächlich schon ein Staat – ein Apartheid-Staat

Israel habe faktisch im Land des historischen Palästinas schon jetzt einen Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan geschaffen. Es gäbe in diesem Gebiet nur eine wirklich Regierung, es existiere nur eine Armee, eine Währung, ein Autobahn-, ein Wasser- und ein Elektrizitätssystem. Es wäre allerdings kein normaler Staat, weil ohne jede internationale Legitimation. Dieser Staat wäre – in der präzisen völkerrechtlichen Bedeutung des Wortes- ein Apartheid-Staat. Jeff Halper, der Israeli ist, dazu bitter: „Das ist die Lösung, die wir haben wollen. Wir haben die Macht, wir haben gesiegt, es ist vorbei. Wir haben das ganze Land des historischen Palästina und üben die totale Kontrolle aus. Die Palästinenser leben mehr oder weniger befriedet auf kleinen Inseln, die wir ihnen gelassen haben. Wir sind ein erfolgreicher Apartheid-Staat, denn wir haben immer noch die internationale Unterstützung, vor allem die der USA, Deutschlands und der EU.“ Israel könne die internationale Öffentlichkeit immer noch davon überzeugen, dass seine Politik ausschließlich seiner Sicherheit und der Selbstverteidigung gegen den Terrorismus diene. „Aber Israel stellt den wahren Sachverhalt auf den Kopf“, so Halper. „Wir sind die viertstärkste Nuklearmacht der Welt. Wir haben neun U-Boote aus Deutschland bekommen, die atomwaffentauglich sind. Wir sind eine Besatzungsmacht seit 50 Jahren. Aber wir sind Juden, wir sind die Opfer.“

Die Zwei-Staaten-Lösung wäre mausetot. Ein „Rückbau“ der 200 Siedlungen mit ihren inzwischen 600.000 Siedlern politisch nur um den Preis eines Bürgerkriegs in Israel, den keiner will, möglich. Für die Opposition in Israel und außerhalb Israels bleibe angesichts dieser „facts on the ground“ nur eine sinnvolle Forderung: Israel müsse sich grundlegend verändern und zu einem demokratischen, säkularen, multiethnischen und multikulturellen Staat werden, der allen seinen Bürgern die gleichen Rechte garantiert. Weil die Apartheid-Politik allen westlichen Werten und allen religiösen Überzeugungen von der Gleichheit aller Menschen widerspreche.

Hier alle Bilder aus der Präsentation

Die Politik der Hauszerstörungen – das Beispiel der Familie Shawamreh

Wie der Blick durch ein geöffnetes Fenster offenbart die systematische Politik der Hauszerstörungen die Politik Israels in den palästinensischen Gebieten. Jeff Halper schilderte mit großer Eindringlichkeit und mit einigen Fotos auf der Leinwand das Schicksal einer Familie, das hier in einigen dürren Worten wiedergegeben werden soll. Salim Shawamreh und seine Frau Arabiya gingen nach ihrer Heirat nach Saudi-Arabien, wo Salim 10 Jahre als Bauingenieur arbeitete. Der Osloer Friedensprozess 1993 ließ die Familie mit ihren sieben Kindern auf Frieden hoffen; sie kehrten zurück und kauften ein Stück Land in Anata in der unmittelbaren Nähe von Jerusalem. Die Genehmigung für den Bau eines Hauses erhielten sie nicht. Sie bauten es illegal und erhielten prompt von den israelischen Behörden die berüchtigte „order of demolition“, die Abrissverfügung. Diese kann sofort oder auch erst Jahre später und dann zu jeder Tages- und Nachtzeit vollstreckt werden kann. Eines Mittags im Juli 1998 kam dann die von Soldaten und einem Bulldozer unterstützte sogenannte Zivilbehörde und verlangte die Räumung des Hauses innerhalb einer Viertelstunde. Als die Familie sich weigerte, wurde sie unter Einsatz von Tränengas gewaltsam vertrieben, Möbel und die Einrichtung auf den Hof geworfen und das Haus vom Bulldozer abgerissen. Das ein Jahr vorher von Jeff Halper und anderen gegründete ICAHD wurde benachrichtigt, konnte einigen Protest organisieren und versuchte, Widerstand zu leisten. Einige Aktivisten ketteten sich an, setzten sich vor den Bulldozer, stiegen aufs Dach. Journalisten, Diplomaten und weitere Aktivisten wurden benachrichtig. Aber: alles umsonst. Das Haus wurde abgerissen, aber wenig später an der gleichen Stelle wieder aufgebaut. Das ganze wiederholte sich in den folgenden Jahren sieben Mal! Was die wiederholte Zerstörung des Hauses für eine Familie, für den Mann, die Frau und die Kinder an seelischen Verletzungen aus den Erfahrung des Verlustes, der absoluten Machtlosigkeit und Erniedrigung mit sich bringt, schilderte Jeff Halper sozusagen als Anthropologe. Die Traumatisierungen wären für immer.

Das Beispiel der Familie Shawamreh steht für viele. Seit 1967 wurden von den Israelis 60.000 palästinensische Häuser abgerissen. Der vom ICAHD organisierte und inzwischen international unterstützte Wiederaufbau von vielen Häusern habe zwar nur letztendlich symbolischen Charakter, wäre aber sehr wirksam. Denn die Zivilbehörde und die Armee fürchteten würden nichts mehr als die Öffentlichkeit und den öffentlichen Protest fürchten.

Die gesamten Ausführungen von Jeff Halper mitsamt der Übersetzung kann hier nachgehört werden.
Sönke Hundt

Audio-Mittschnitt vom 17.03.15 in der Zentralbibliothek Bremen (120 Min,)

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