Ein neues Buch zu den Hintergründen des Mai-Kriegs.
Helga Baumgarten, Kein Frieden für Palästina. Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand, Wien: Promedia 2021. ISBN: 978-3-85371-496-6
Am 12. Mai dieses Jahres wurde Helga Baumgarten, emeritierte Professorin der Universität Birzeit, im ZDF-Mittagsmagazin zu den seinerzeit laufenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern interviewt. Sie wies erstens – langfristig – auf die schon mehr als 50 Jahre dauernde Besatzung mit ihrer ständigen Unterdrückung und Einzwängung der Palästinenser durch die Besatzungsmacht und den daraus resultierenden Groll und zweitens auf den unmittelbaren Anlass hin: die Sperrung des Areals vor dem Damaskustor ausgerechnet im Ramadan und die israelischen Angriffe auf den Tempelberg mit seinen islamischen Heiligtümern. Gefragt, ob denn nun die Palästinenser angesichts der Raketenangriffe der Hamas auf Israel, die dem gefolgt waren, mehrheitlich hinter ihr stünden, antwortete sie bejahend und erklärte das mit eben diesem Groll, der bei der ständigen durch Israel ausgeübten Gewalt Gegengewalt befürworte. Weiter sprach sie sich für massiven diplomatischen Druck westlicher Staaten auf Israel aus – mit dem Ziel, es von seinem unterdrückerischen Kurs abzubringen und letzten Endes die Besatzung zu beenden.
Das alles war sachlich ganz richtig und nachvollziehbar. Es kommt allerdings sehr selten vor, dass in deutschen Medien an so prominenter Stelle Israel als lang- und kurzfristig hauptverantwortlich für die Eskalation der Situation vor Ort benannt wird. Die Reaktion war zweifach. Einmal führte es zum Aufschrei derjenigen, die sich hierzulande berufen fühlen, den Anwalt Israels zu machen, gleich was es tut. In der Bild-Zeitung wurde Baumgarten in den rüdesten Tönen beschimpft („Hamas-Helga“) und beschuldigt, eine „Terroristen-Agenda“ zu verbreiten. Auch die Zeitschrift „konkret“ brachte einen heftigen Angriff auf das Interview.
Die andere Reaktion war massenhafter Zuspruch, vor allem von muslimischen Migranten in Deutschland, die würdigten, dass der Konflikt einmal aus der Perspektive der Opfer dargestellt wurde, und sich als Muslime in ihrer Solidarität mit den Palästinensern ernstgenommen fühlten.
Diese doppelte Reaktion wies auf den Zwiespalt hin, der Stellungnahmen zum Israel-Palästina-Konflikt allgemein kennzeichnet: die Parteinahme offizieller Stellen und eines großen Teils der Medien für Israel einerseits, Sympathie für die real unterdrückten Palästinenser andererseits.
Das hat Helga Baumgarten zum Anlass genommen, noch einmal auf die Sache zurückzukommen – in einem Buch, in dem sie die Auseinandersetzungen im Mai im Detail nachzeichnet und sie dann in die Gesamtsituation von Konflikt und Besatzung einbettet. Dabei geht sie von 1948 aus – der Staatsgründung Israels und der damit verbundenen Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft, vor allem der Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung, der „Nakba“. Das illustriert sie, anders als es normalerweise geschieht, durch die persönliche Erfahrung einiger prominenter palästinensischer Persönlichkeiten.
Weiter verfolgt sie die in der Nakba entstandene Situation durch die verschiedenen Etappen ihrer Entwicklung; zunächst die bis 1967, gekennzeichnet durch Exil, Diskriminierung und Unterdrückung der Palästinenser, aber auch schon durch die Entstehung eines Widerstands. Dann die Situation der Besatzung weiterer palästinensischer Gebiete seit 1967 mit all den neuen Formen von Entrechtung und Unterdrückung; weiter die erste Intifada und der durch sie ermöglichte Oslo-Prozess, ursprünglich erhofft als Friedensprozess, der allerdings wegen der israelischen Verweigerung einer Zwei-Staaten-Lösung diese Hoffnungen enttäuschte und zur massiven Verschlechterung der Situation der Palästinenser führte. Immer wieder betont die Autorin drei Aspekte der Entwicklung: den Charakter des zionistischen Projekts als Fall von Siedlungskolonialismus, die ethnische Säuberung als eines seiner Instrumente und Israels Charakter als Apartheidsstaat.
Weiter behandelt das Buch die Entwicklung seit etwa 2004 unter zwei Aspekten. Da ist einmal der Aufbau von zwei palästinensischen politischen Gebilden: Herrschaft der Hamas im Gazastreifen, der palästinensischen Behörde unter Mahmud Abbas in der Westbank, beide autoritäre Strukturen zum Nachteil der Bevölkerung, beide unter der fortgesetzten Vorherrschaft Israels, beide unfähig, daran Wesentliches zu ändern. Und der zweite Aspekt ist der israelische Versuch der Einhegung der Palästinenser: in der Westbank die Kooptierung der palästinensischen Behörde, die Terrorisierung der Bevölkerung und die Fortsetzung der ethnischen Säuberung etwa in Jerusalem, in Gaza die Totalblockade und periodisch wiederholte Kriege, oft als ganz einseitige Gemetzel. Alles das zu dem Zweck, die Palästinenser als möglichen politischen Störfaktor auszuschalten.
Alles das ist schrecklich, und unter den gegebenen Kräfteverhältnissen wird es sich nicht so schnell ändern; daran lässt auch dieses Buch keinen Zweifel. Wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dann den, dass das Image Israels in der Weltöffentlichkeit aufgrund seiner eigenen Verhaltensweisen erheblichen Schaden genommen hat. Das hat sich bei der Auseinandersetzung im letzten Mai gezeigt. Auch der Internationale Strafgerichtshof beschäftigt sich mit möglichen israelischen Kriegsverbrechen. Entsprechend nervös wird die israelische Regierung. Sie greift verstärkt zu dem alten Mittel, Kritik an ihrem Verhalten als Antisemitismus zu verteufeln. Und auch der jüngste Schritt des Verteidigungsministeriums, sechs Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft für terroristisch zu erklären, spricht für Nervosität.
Insgesamt ist dieses Buch, indem es den vielfach verzerrten Wahrnehmungen des Konflikts solide Informationen gegenüberstellt, ein guter Beitrag zu seiner realitätsgerechten Erfassung.
Alexander Flores