Der Andrang zum Vortrag von Abi Melzer am 21. Januar 2017 im Gästehaus der Universität Bremen auf dem Teerhof war unerwartet groß. Der Saal war mit mehr als 150 Menschen übervoll, einige setzten sich in den Gängen auf den Fußboden, einige versuchten vor dem Saaleingang, dem Geschehen zu folgen, und etliche sind wohl auch wieder gegangen. Es wurde spannend, zumal auch eine Gruppe aus der Szene der Antideutschen und der mit ihnen Sympathisierenden anwesend waren. Anwesend waren übrigens auch Dr. Hermann Kuhn, der langjährige Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), und Benno Schirrmeister von der taz-Bremen (ein Bericht von ihm mit dem Titel „Mäandern für Meinungsfreiheit“ erschien am 24.01.2017 in der Bremen-Taz)- beide in der Stadt dafür bekannt, dass sie gerne mal Veranstaltungen und Referenten, die sich kritisch mit der Politik der israelischen Regierung auseinandersetzen, mit dem notorischen Antisemitismus-Vorwurf belegen.
Der Abend war also spannend, und die Diskussion war erwünscht, und sie verlief im großen und ganzen auch in einem erfreulich ruhigen und sachlichen Rahmen. Johannes Feest, seines Zeichens emeritierter Professor für Strafrecht und Strafvollzug an der Universität Bremen, hatte den Abend organisiert, weil er sich darüber geärgert hatte, dass man Abi Melzer, dem Referenten des Abends, in München so große und administrative Schwierigkeiten bereitet hatte, seine Sicht auf den Nahost-Konflikt und die irgendwie typisch deutsche Antismitismus-Diskussion zu erläutern. Am 27. September 2016 war Melzers geplanter Vortrag über „Antisemitismus heute“ nach Interventionen von interessierter Seite vom Kulturreferat der Stadt München kurzerhand abgesetzt worden. Begründung: dieser Vortrag sei geeignet, „die Grenze zwischen Israelkritik und Antisemitismus zu überschreiten“. Auch gegen Christoph Glanz, Lehrer in Oldenburg, war interveniert worden, weil er sich in der BDS-Kampagne engagiert hatte. Zuvor schon hatte es die Pro-Israel-Lobby fast geschafft, den Vortrag des Bremer Autoren Arn Strohmeyer über sein neues Buch („Antisemitismus, Philosemitismus und der Palästinakonflikt“) in den Weserterrassen zu verhindern. Schließlich – nach Diskussionen mit den Verantwortlichen – wurde der Vortrag dann doch genehmigt. Und … ähnliche Vorfälle waren in den letzten Monaten in vielen deutschen Städten (Bochum, Göttingen, Kiel, Köln, Leipzig, Nürnberg, Oldenburg etc.) bekannt worden.
Man muss nicht alle Verleumdungen und Beleidigungen seitens der unbedingten Verteidiger der israelischen Politik hinnehmen. So hat jetzt Charlotte Knobloch, die langjährige Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde in München, den Zivilprozess gegen Abi Melzer verloren. Das Landgericht München hat ihr, nach einem in der Öffentlichkeit viel beachteten Prozess, am 30. November 2016 untersagt, weiterhin zu behaupten, dass Abi Melzer „für seine antisemitischen Äußerungen regelrecht berüchtigt“ sei. Für den Fall der Zuwiderhandlung hat das Gericht ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 250.000 Euro, ersatzweise 6 Monate Ordnungshaft, festgesetzt. Prozesse kosten viel Geld – die rechtliche Auseinandersetzung ist mit diesem Urteil noch nicht zuende -, weshalb auf der Veranstaltung gesammelt wurde.
„Ich finde“, so Johannes Feest in seiner Einleitung, „dies ist eine erschreckende Entwicklung, die mich dazu geführt hat, Abi Melzer nach Bremen einzuladen, um ihm Gelegenheit zu geben, zu diesem wichtigen Thema zu sprechen, aber auch um herauszufinden, wie es um die Meinungsfreiheit in Bremen bestellt ist.“ Auch gegen diese Veranstaltung sei interveniert worden, aber, so Feest, der Rektor der Universität sei standhaft geblieben … Geplant sei über den heutigen Abend hinaus eine Veranstaltungsreihe zum Verfassungsgrundsatz der Meinungsfreiheit, in dem es bekanntlich in Art. 5 heißt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern, zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu informieren.“ Diese Rechte seien jedoch nicht unbegrenzt, sie fänden ihre Grenzen in den gesetzlichen Vorschriften zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Beleidigungen beispielsweise seien also von der Meinungsfreiheit nicht geschützt.
Abi Melzer erzählte und referierte in seinem spannenden Vortrag über sein eigenes bewegtes Leben als in Samarkand (Usbekistan) geborener Jude, der als Kind direkt nach der Staatsgründung 1948 nach Israel einwanderte, das Land schon als zehnjähriger mit seinen Eltern wieder verließ und in die Bundesrepublik Deutschland kam. Wie er schließlich den Aufforderungen der Israelis, seinen Wehrdienst abzuleisten, nachkam, wie sich seine Ablehnung der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern verstärkte, wie er den Zionismus lernte, immer grundsätzlicher zu kritisieren und dass er trotzdem Israel liebe. Das Thema des Abends war natürlich der Antisemitismus und der immer merkwürdiger werdende Gebrauch dieses Vorwurfs in Deutschland. „Ich gehe grundsätzlich von der These aus“, sagte er, „dass der Antisemitismus heute als Volksbewegung nicht mehr vorhanden ist, auch wenn es noch ein paar Antisemiten gibt – so was wird es immer geben. Man hasst kaum noch Juden, weil sie Juden sind, aber man kritisiert immer mehr die völkerrechtswidrige Politik des Staates Israels. Israel und viele Juden nennen das Antisemitismus. Seit vielen Jahren versuchen zionistische Kreise in diesem Land, die Meinungshoheit über Antisemitismus zu übernehmen und nicht nur zu bestimmen, wer Antisemit ist und wer nicht, sondern grundsätzlich auch zu bestimmen, was Antisemitismus ist und was nicht.“ Das Grundproblem der gesamten Auseinandersetzungen bestehe schließlich darin, dass die Akteure der Israellobby sich der Schwäche ihrer Argumente nur allzu bewusst seien. Also würden sie eine offene Diskussion lieber verhindern als sich daran zu beteiligen.
Abi Melzers spannender Vortrag kann hier nicht weiter referiert werden – aber der Referent hat dankenswerterweise der Redaktion sein Manuskript (hier) zur Verfügung gestellt; außerdem kann seine Rede in dem Youtube-Video (54 Minuten) hier nachgehört werden.
Sönke Hundt
Lieber Widu Wittekind, (ein Kommentar zum Kommentar)
(Veröffentlicht auch am 5. Februar 2017 auf der Hauptseite)
erst einmal vielen Dank für Ihre beiden Diskussionsbeiträge am 1. und 2. Februar 2017 zu unseren Bericht über die Veranstaltung mit Abi Melzer am 21. Januar 2017 im Gästehaus der Universität. Sie nahmen Anstoß an dessen Bemerkung über die alten Palästinenser in Palästina, „die schon seit über 3000 Jahren dort ununterbrochen leben, wenn man bedenkt, dass sie die echten Nachfolger der alten Hebräer sind.“ Dieser Satz, schrieben Sie, wäre „ein herrliches Beispiel für die neu eingeführte Sparte ‚Alternative Fakten‘.“ Meine Antwort und mein Verweis auf den israelischen Historiker Shlomo Sand
und sein viel diskutiertes Buch über „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ konnte Sie offenbar nicht überzeugen, und Sie antworteten mit einem längeren Zitat von Luise Hirsch (leider ohne Quellenangabe), die eine längere Rezension zum Buch von Sand verfasst hat. Nun ist es aber so, dass Frau Hirsch die brisanten Thesen von Shlomo Sand gar nicht bestreitet (sie kritisiert ganz andere Zusammenhänge), sondern sie im Gegenteil bestätigt.
Sie sagt: „Dem Buch ist zugute zu halten, dass Sand mit einigen populären Legenden aufräumt, die Fachhistoriker freilich ohnehin längst ad acta gelegt haben. Es ist an der Zeit, dass auch der Allgemeinheit zur Kenntnis gelangt, dass alle Gemeinschaften zu einem gewissen Grad imaginiert sind. Ebenso, dass die biblischen Erzählungen von den Erzvätern, vom Auszug aus Ägypten und der Landnahme in Kanaan just von der israelischen Archäologie als unhistorisch entlarvt wurden, die eigentlich angetreten war, sie zu beweisen. Oder die weithin ignorierte Tatsache, dass in der Spätantike vor dem Aufstieg des Christentums eine große Anzahl von Menschen zum Judentum konvertiert ist – was den Schluss zulässt, dass auch die heutigen Juden zum Teil auf Proselyten (zum Judentum bekehrte, S.H.) zurückgehen. Die wichtigste dieser Klarstellungen ist vielleicht, dass es eine umfassende, systematische ‚Vertreibung‚ der Juden aus Palästina durch die Römer nie gegeben hat […].„
Das Zitat lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Was Abi Melzer meinte und Shlomo Sand in seinen Büchern geschildert hat, sind also keine „alternativen Fakten“, sondern eine richtige Darstellung der historischen Zusammenhänge, die von Luise Hirsch im Großen und Ganzen bestätigt werden.
Aber zurück zur Ausgangsfrage: Was bezweckte Abi Melzer mit seinem Hinweis auf die alten Palästinenser? Melzer kritisierte den Satz von Miri Regev, Israels derzeitiger Kulturministerin, dass Jerusalem seit 3000 Jahren die Hauptstadt Israels gewesen sei und es auch für weitere 3000 Jahre „und für immer“ bleiben werde. Und in diesem Satz liege „die ganze Ideologie des Zionismus, seine Arroganz, Selbstgerechtigkeit, Überheblichkeit und Absurdität.“
Wir wissen natürlich als aufgeklärte Europäer, dass die Bibel kein Geschichtsbuch ist, dass die im Alten Testament erzählten Geschichten nur für gläubige Juden (und Christen) relevant sind und dass sie als Begründung für die politische Verfassung und die territorialen Ansprüche von modernen Staaten nichts taugen. Die Crux besteht in der Definition Israels, ein jüdischer Staat zu sein, was ein Streitpunkt von Staatsbeginn an war. Schon in den Beratungen für die Unabhängigkeitserklärung, die in Tel Aviv am 14. Mai 1948 feierlich verkündet wurde, waren drei Dinge strittig und sind bis heute strittig geblieben. Nämlich erstens die Grenzen des neuen Staates, zweitens sein demokratischer Charakter und drittens die Gleichheit vor dem Gesetz für alle Bürger dieses Staates. Im ersten Entwurf der Erklärung war noch von den Grenzen des neuen Staates die Rede, so wie sie im UN-Teilungsbeschluss von 1947 festgelegt worden waren. Gefordert in den Beratungen wurde auch, eine wichtige Ergänzung in den Text der Gründungserklärung aufzunehmen: Statt „Hiermit erklären wir die Gründung eines freien und unabhängigen jüdischen Staates“ sollte es heißen „Hiermit erklären wir die Gründung eines freien, unabhängigen und demokratischen jüdischen Staates.“ Anfänglich sollte auch ein längerer Abschnitt mit verbindlichen Rechten in die Erklärung eingefügt werden, in dem stehen sollte: „Es herrscht ein Recht [im Staat] für alle Einwohner, ungeachtet ihrer Rasse, Religion, Sprache oder ihres Geschlechts.“
Fast jedes Wort des Entwurfes wurde, wie man sich vorstellen kann, eingehend diskutiert und schließlich mit durchaus knappen Mehrheiten abgestimmt. In der Endfassung fehlten dann die Grenzen und die Demokratie. In der Frage des gleichen Rechts für alle Einwohner wurde ein Kompromiss gefunden, der immer wieder zitiiert wird aber umstritten ist, ob er jemals umgesetzt wurde: „Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“(vgl. dazu den ausführlichen Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Israelische_Unabh%C3%A4ngigkeitserkl%C3%A4rung)
Eine kleine Episode zum Schluss: während einer Reise mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) im März 2016 nach Israel/Palästina besuchte unsere Reisegruppe auch das Staatsarchiv in Jerusalem, wo so viele der für die Historiker wichtigen Dokumente aufbewahrt werden. Der sehr gut deutsch sprechende Staatsarchivar Jehoschua Freundlich empfing uns und zeigte uns u.a. die Pistole, mit der Ytzhak Rabin erschossen wurde sowie – sehr interessant – eine Kopie der Gründungserklärung des Staates Israel, so wie sie dem us-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman vorgelegt worden war. Truman war sich seinerzeit der Verfassungsproblematik voll bewusst, weswegen er eigenhändig die Worte „the Jewish State“ auskreuzte und sie durch das Wort „Israel“ ersetzte. Außerdem schrieb er das Wort „provisional“ (i.e. vorläufig) vor das Wort „government“. (vgl. http://www.mideastweb.org/us_supportforstate.htm und die dort angegeben Quellen)
Die Problematik der nicht definierten Grenzen existiert bis heute und wird gerade jetzt wieder aktuell; die Gleichheit vor dem Gesetz ist für die palästinensischen Israelis (oder israelischen Palästinenser) bis heute nicht gewährleistet und der demokratische Charakter des Staates Israel wird durch die anachronistischen religiösen Ansprüche immer noch in Frage gestellt. John Kerry, der ehemalige Außenminister der USA, formulierte es in seiner Abschiedsrede am 28. Dezember 2016 klar und deutlich: „Israel kann entweder jüdisch oder demokratisch sein, aber nicht beides zugleich.“
Mit freundlichem Gruß
Sönke Hundt
PS: Wie finden Sie den Vorschlag, eine gemeinsame Diskussionsveranstaltung zwischen der DIG und dem AK Nahost oder anderen Gruppierungen zu organisieren. Dann könnte gleich öffentlich und kontrovers diskutiert werden. Auf der Podiumsveranstaltung im Rahmen der Nakba-Ausstellung am 6. März 2015 hat es ja auch ganz gut funktioniert.
Abi Melzer sagte lt. Manuskript:
„Und wieso nicht den Palästinensern, die schon seit 3000 Jahren dort ununterbrochen leben, wenn man bedenkt, dass sie die echten Nachfolger der alten Hebräer sind.“
Dieses Satz ist ein herrliches Beispiel für die neu eingeführte Sparte „Alternative Fakten“. Ich möchte nicht wissen, wie hoch der Prozentsatz der Leser ist, die das glauben. Je länger es wiederholt wird, desto wahrscheinlicher wird dann auch, dass Jesus kein Jude war und dass er niemals im jüdischen Tempel in Jerusalem gewesen ist (Lukas 2:41-52; Matthäus 13:53-56), weil es gar keinen Tempel gab, sondern nur eine palästinensische Gebetstätte.
Meine Güte, was will Melzer eigentlich bezwecken?
sh sagte am 2. Februar 2017 um 11:42 :
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In der Tat ist dieser Zusammenhang interessant – und noch immer weitgehend unbekannt. Aber man muss schon historisch genau argumentieren! Abi Melzer bezieht sich wahrscheinlich in dem Zitat auf den israelischen Historiker Shlomo Sand, der mit seinem viel beachteten Bestseller (auch in Israel) „Wie das jüdische Volk erfunden wurde“ aus dem Jahr 2008 wesentlich zu dieser neuen Sichtweise beigetragen hat. Die Geschichtswissenschaft habe nachgewiesen, dass der Exodus des jüdischen Volkes aus Palästina im ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung nicht stattgefunden habe. Die jüdische Diaspora entstand nicht als Folge der Vertreibung von Juden, sondern durch Konversionen von Volksstämmen vor allem in Nordafrika und Osteuropa zum jüdischen Glauben. Es habe also kein jüdisches Volk gegeben, wohl aber eine jüdische Religion. Und wer das nicht in der Geschichtsinterpretation trenne, komme zu heute verhängnisvollen Schlussfolgerungen.
Shlomo Sand hat seine Position in einem lesenswerten Interview in der Frankfurter Rundschau v. 17.06.2009 verdeutlicht.
(http://www.fr-online.de/politik/interview-mit-shlomo-sand–es-gibt-kein-juedisches-volk-,1472596,3316306.html)
Die israelische Forderung der israelischen Regierung nach einer Anerkennung als „jüdischer Staat“ sei gefährlich, weil sie in der Konsequenz zu einer Ethnokratie führe. ‚Jüdisch‘ sein, das ist ein Begriff, der ausgrenzt, im Gegensatz zu ‚israelisch‘, der nicht ausgrenze, da auch Araber, die in Israel leben (immerhin 20 Prozent der Bevölkerung), Israelis seien. Ein jüdisches Volk aber gäbe es nicht, denn das Judentum sei eine Religion und keine Nation.
Eine solche Feststellung widerspricht natürlich dem zionistischen Narrativ, ist aber geschichtswissenschaftlich nicht zu widerlegen. Nur religiöse Argumente können dagegen vorgebracht werden; das ist dann aber eine Frage des jeweiligen Glaubens oder Nicht-Glaubens. Die Bibel ist zwar „ein theologisches, literarisches und moralisches Meisterwerk – aber eben kein Geschichtsbuch“.
Das Existenzrecht wird Israel damit nicht bestritten, wohl aber anders begründet. Sand: „Die Legitimation von Israel als Staat kommt aus der Geschichte. Es gab Zeiten, in denen es keinen Ort gab, wo Juden leben konnten. Israel wurde gegründet, um den Juden aus aller Welt eine sichere Zuflucht zu geben. […] Fast 70 Jahre nach der Staatsgründung ist es eine Perversion der Demokratie, von einem jüdischen Staat zu sprechen. Israel heute aber das Existienzrecht abzusprechen, würde einen neuen Genozid vorbereiten.“
Die Frage in dem Interview, ob dann die jetzt in Israel lebenden Palästinenser nicht im Grunde genommen die wahren Nachkommen der alten Juden seien, beantwortet Shlomo Sand so: „Es gibt keine reinen Völker, es sind immer Mischungen. Aber ich bin überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Palästinenser aus Hebron ein Nachkomme eines alten Juden ist, grösser ist, als dass ich einer bin.“
Sönke Hundt
Zu den Thesen von Sand das hier (Luise Hirsch, Heidelberg):
>> Das von Sand behauptete „Verschweigen“ besagter Fakten durch jüdische Historiker (Stilprobe: „Doch bekanntlich ignoriert die Historikerzunft einfach die Dinge, die ihr nicht in den Kram passen“, S. 276f.) ist unwahr, wie schon ein kurzer Blick in die Bibel der Mainstream-Judaistik, die Encyclopaedia Judaica, belegt.[1] Sie sind vielmehr unbestrittener Konsens. Eher schon lässt sich Sand Verschweigen vorwerfen: Die wirtschaftlich motivierte Emigration großer Teile der jüdischen Bevölkerung aus Palästina in andere Teile des Römischen Reichs in der Spätantike, durch Quellen gut belegt, kommt bei ihm nicht vor. Diese Emigranten gründeten Diasporagemeinden im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus (die älteste belegte Präsenz von Juden auf deutschem Boden datiert auf das Köln des 4. Jahrhunderts). Dass zu diesen Gemeinden auch Konvertiten gehörten, ist wahrscheinlich, widerspricht aber offenbar Sands extrem vereinfachendem Geschichtsbild. Er stellt der (nirgends seriös vertretenen) Vorstellung, „alle“ Juden seien biologisch verwandt, die Behauptung entgegen, dass die gesamte jüdische Präsenz außerhalb Palästinas bis auf unbedeutende Ausnahmen auf Konversion zurückgehe. Die einzigen „Original-Juden“ sind für ihn die heutigen Palästinenser, die er als zum Islam konvertierte Nachfahren der antiken jüdischen Bevölkerung betrachtet.
Je weiter die „Beweiskette“ chronologisch fortschreitet, desto absurder werden die Behauptungen. Um den Ursprung der osteuropäischen Juden zu erklären, greift Sand zu der Legende vom im Kaukasus gelegenen Chasarenreich. Die Existenz dieses Reichs und die Konversion des Königshauses sowie vermutlich einer kulturellen Elite zum Judentum um das Jahr 800 kann als belegt gelten. Dass aber mehr als ein kleiner Teil der osteuropäischen Juden auf die Chasaren zurückgeht, glaubt kein ernstzunehmender Historiker. Sands Argumentation kulminiert darin, die Migration großer Teile der deutschen Juden ins polnisch-litauische Großreich ab dem Hochmittelalter zu bestreiten. Diese Migration ist durch zahlreiche Quellen belegt, von Erlassen des polnischen Königs bis hin zu den mittelhochdeutschen Wurzeln der jiddischen Sprache. Wer sie bestreitet, stellt sich endgültig außerhalb des fachwissenschaftlichen Minimalkonsenses.
Am Beispiel der Palästinenser als Nachfahren konvertierter Juden lässt sich Sands unseriöse Argumentationsweise gut verdeutlichen: historische Quellen, so viel ist klar, gibt es nicht. Das Zeitalter der arabischen Eroberung liegt weitgehend im Dunkeln. Sand kann sich lediglich auf andere moderne Autoren berufen, und diese akzeptiert oder verwirft er je nach ideologischer Agenda. Kronzeuge ist für ihn vor allem der aus Russland stammende frühe Zionist Israel Belkind, der 1882 mit der Ersten Alija ins Land kam. Belkind, vielleicht ein origineller Kopf, aber kein Wissenschaftler, stellte die rein spekulative Behauptung auf, die im Land lebende arabische Bevölkerung sei „ein Teil unseres Volkes“ und „unser Fleisch und Blut“ (S. 278). Als Beweis diente ihm unter anderem die Beobachtung, „die besondere Mentalität“ der Araber „erinnere […] sehr an das Benehmen der hebräischen Erzväter“ (also der biblischen Gestalten Abraham, Isaak und Jakob).
Diese Ethnoromantik folgte, wie Shlomo Sand darlegt, einem klaren erkenntnisleitenden Interesse: in bester orientalistischer Tradition waren Belkind und andere zionistische Vordenker (der prominenteste war der junge David Ben Gurion) überzeugt, dass die angebliche Blutsverwandtschaft von Juden und palästinensischen Arabern „die Aufnahme der [zionistischen] Siedler durch die eingesessene Bevölkerung erleichtern würde. Da ihre Kultur auf einer niedrigeren Stufe stünde, würden die […] Fellachen sich schnell an die hebräischen kulturellen Gepflogenheiten gewöhnen und schließlich völlig in ihnen aufgehen“ (S. 279). Nachdem sich diese Erwartung als strategischer und grundsätzlicher Irrtum erwiesen hatte (die zionistische Besiedlung beschleunigte vielmehr die Entstehung eines modernen arabischen Nationalismus, der die Juden als „das Andere“ benutzt), wandten sich ihre Urheber von ihr ab. Nach den arabischen Aufständen in den 1920er-Jahren war von den Fellachen als den Abkömmlingen konvertierter antiker Juden keine Rede mehr. Die gesamte Diskussion entbehrt so, wie sie Sand selektiv darstellt, der empirischen Grundlage.
Dabei existieren einige ernstzunehmende Belege, die Sand heranziehen könnte. Sie kommen von einer ganz anderen Seite: der Populationsgenetik.[2] Tatsächlich gibt es signifikante genetische Gemeinsamkeiten von Palästinensern und Juden, die sie nicht mit anderen teilen. Die Forschung auf diesem Gebiet ist noch jung und ihre Rezeption in der Allgemeinheit ist stark behindert durch die Tatsache, dass Naturwissenschaft auf populäre Darstellungen angewiesen ist, um Laien verständlich zu sein. Einiges ist dennoch „übersetzt“ worden.[3] Dass Sand diese Publikationen ignoriert, mag an einem prinzipiellen methodischen Problem liegen, das man als die Crux des gesamten cultural turn bezeichnen könnte: Was ist, wenn das hypostasierte kulturelle Konstrukt selber eines ist? Oder anders gefragt: Wie viel Respekt schuldet die Geschichts- der Naturwissenschaft?
Nach den bisherigen Ergebnissen der Populationsgenetik ist das „jüdische Volk“ womöglich tatsächlich mehr als nur ein kulturelles Konstrukt. Es gibt genetische Gemeinsamkeiten von jüdischen Populationen auf der ganzen Welt (aschkenasische und sefardische), die den vorsichtigen Schluss auf gemeinsame Vorfahren bis in die Zeit des Babylonischen Exils zulassen.[4] Es gab auch immer wieder genetische „Beimischungen“, die entweder durch Konversionen zum Judentum oder durch „Mischehen“ erklärlich sind. Es könnte möglicherweise sogar nachweisbare „chasarische“ Gene bei einigen osteuropäischen Juden geben.[5] Und es gibt eben Hinweise auf eine Verwandtschaft von Juden und Palästinensern.
Mit anderen Worten: Für Sands Behauptungen über die „wahren“ historischen Ursprünge sowohl des jüdischen (zum Judentum konvertierte Heiden) als auch des palästinensischen Volkes (zum Islam konvertierte Juden) gibt es naturwissenschaftliche Belege. Aber in seinem manichäischen Weltbild, in dem es entweder nur „reine“ Juden oder eben nur Konvertiten geben kann, ist für ein „Mischvolk“ kein Platz. Das ist umso unverständlicher, als Sands eingestandenes, wortreich dargelegtes erkenntnisleitendes Interesse, dass Israel sich nicht länger als eine ethnische, sondern als politische Nation aus gleichberechtigten Bürgern definieren soll, dass seine Existenzberechtigung einfach in seiner Existenz begründet ist und nicht in einer mythischen „Heimkehr“, zumindest der Rezensentin vollkommen einleuchtet. Aber wenn dieses respektable Ziel von solchen Publikationen gestützt wird, bleibt nur das bekannte Bonmot, dass, wer solche Freunde hat, keine Feinde braucht.<<
Aber meine Frage, was Melzer eigentlich bezweckt, ist von SH mit Shlomo Sand nicht beantwortet. Ich erwarte auch keine.