Alles wäre über den Nahen Osten schon gesagt worden. Auf zig-tausenden von Seiten sei die jetzige Ausweglosigkeit wieder und wieder beschrieben worden. Seit den Oslo-Verträgen im Jahre 1993 seien die Verhältnisse nur schlimmer geworden. Trotzdem wäre der Nahost-Konflikt aus dem öffentlichen Interesse zur Zeit so gut wie verschwunden. „So wenig Israel, so wenig Lösungen für den israelisch-palästinensischen Konflikt wie in den letzten Jahren hat es noch nie vorher gegeben.“
Ist das reines Wunschdenken? Nach Meinung Steinbachs nicht ganz. Er versuchte an diesem Abend, aus einer Analyse des jetzigen Zustandes und seiner Geschichte Indizien für eine neue Entwicklung, die er eine Utopie nannte, zu identifizieren. Diese wäre möglich, aber natürlich keines weg sicher. Die jetzigen Strukturen seien das Erbe des Imperialismus und Kolonialismusder europäischen Großmächte nach dem Ende des 1. Weltkrieg und dem Ende des Osmanischen Reiches. Israel und die zionistische Ideen seien Gebilde dieser Strukturen und im Kern das Ergebnis eines westlich geprägten Siedlerkolonialismus – übrigens des einzig erfolgreichen in dieser Region. Die entsprechenden Jubiläen würden in diesem Jahr anfallen: 120 Jahre erster zionistischer Kongress in Basel, 100 Jahre Balfour-Deklaration, 70 Jahre Teilungsbeschluss der UNO-Vollversammlung und 50 Jahre Besetzung der Westbank und Ost-Jerusalems.
Die Staatsgründung Israels hätte immer zwei Elemente beinhaltet: es sei erstens ein Produkt des Kolonialismus und zweitens entstanden als Refugium für die im zweiten Weltkrieg fast vollständig vernichteten Juden Europas. Beide Elemente seien konstitutiv. Israel existiere, aber eine politische Legitimation seiner Existenz könne erst erfolgen, wenn der Staat Grenzen habe, die von den umliegenden arabischen Staaten und von den Palästinensern akzeptiert werden könnten. Der Konflikt sei nach wie vor ungelöst: Israel hätte bis heute seine Grenzen nicht definiert. Es hätte mit seinen arabischen Nachbarn keinen Kompromiss gesucht und seine (völkerrechtlich illegale) Expansionspolitik fortgesetzt.
In den letzten Jahren aber sei unübersehbar geworden, so Udo Steinbach, dass der Schutz Israels durch die kolonialen Strukturen des Westens zu bröckeln begänne. Der Einfluss Frankreichs und Großbritanniens sei schon vor einiger Zeit verblichen, der Ost-West-Konflikt habe die Struktur noch einmal verändert und Israel auf der westlichen und die arabischen Länder auf der Seite der Sowjetunion verortet. Schließlich zeige, und das müsse für die Israelis und ihre Regierungen eigentlich alarmierend seien, der jetzt noch existierende Unilateralismus der USA deutliche Ermüdungserscheinungen.
Die Obama-Administration habe aus ihrer tiefen Frustration über die Regierung Netanyahu keinen Hehl mehr gemacht. Die USA würden beabsichtigen, so Steinbach, sich mehr und mehr aus dem Nahen Osten zurückzuziehen. Vielleicht habe das auch dazu geführt, dass Obama und sein Außenminister John Kerry dermaßen von führenden israelischen Politikern beleidigt worden wären. Unübersehbarer Ausdruck für diese Rückzugstendenzen aus dem Unilateralismus sei der letzte Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gegen die Siedlungspolitik Israels gewesen, bei dem sich die USA – zum ersten Mal – der Stimme enthalten hätten und so der Beschluss gegen Israel gefasst werden konnte. Ob die USA ihre Politik unter Trump wieder ändern würde, sei eine völlig offene Frage. Man werde sehen.
Die Flüchtlingsfrage würde aber jetzt von Europa ausgehend für eine neue Dynamik sorgen. Er zitierte in diesem Zusammenhang den Staatssekretär aus dem deutschen Entwicklungsministerium mit den Worten: „Wir müssen den ganzen Nahen Osten neu denken.“ Vor diesem Hintergrund wären die jüngsten Reisen des deutschen Außenministers und des deutschen Bundespräsidenten von großer Bedeutung gewesen. Sigmar Gabriel habe gezeigt, wo seiner Meinung nach die Kräfte der Zukunft in Israel liegen würden und dass man sich mit ihnen arrangieren müssen. Und Frank Walter Steinmeier habe sich nicht von Gabriel distanziert und ebenfalls wissen lassen, dass nach Meinung der deutschen Bundesregierung Änderung der israelischen Politik notwendig seien. „Die EU und Deutschland“, so Steinbach, „werden sich mit der Trotzreaktion Netanyahus nicht abfinden.“
Die Förderung des Zionismus vor 100 Jahren durch die europäischen Großmächte sei ein Eckstein gewesen im Gebäude, das von ihnen im Nahen Osten aufgebaut worden wäre. Aber die Zeiten wären vorbei, auch die Zeiten des Kalten Krieges und des us-amerikanischen Unilateralismus wären vorbei. Und es würden in dieser Region jetzt neue politische und gesellschaftliche Strukturen in Saudi-Arabien, dem Irak, in Syrien, Jordanien, Ägypten und dem Libanon entstehen. „Noch ist diese neue Architektur des Nahen Ostens nicht klar. Und der Weg zur Errichtung eines neuen Gebäudes ist lang und schwierig. Die Palästinenser und die Lösung der Palästinafrage wird den Eckstein bilden, wenn dieser Prozess einmal in Gang kommt. Solange es dafür keine Lösung gibt, wird Palästina eine schwärende Wunde bleiben, die die Stabilität des Staatensystems und der Gesellschaften im Nahen Osten gefährdet.“
Das Publikum dankte dem Referenten mit langem Beifall. Unter der Moderation von Prof. Dr. Alexander Flores folgte – wie sich denken lässt – eine angeregte und in Teilen kontroverse Diskussion.
Sönke Hundt
hier der Beginn des Referats von Udo Steinbach: