„Immer nur von Rache zu Rache, von Operation zu Operation – wir leben in wachsender Hoffnungslosigkeit, ohne ein Bild von der Zukunft. Niemand in Israel kann sich vorzustellen, wie das Land in zwanzig Jahren aussehen mag – es macht zu viel Angst. In aufrichtigen Augenblicken gestehe ich mir ein, dass auch ich die Chance, dass es irgendwann anders werden wird, bezweifele. Es gibt Gründe für diese Verzweiflung. Aber wir müssen daran glauben, dass eine Änderung unserer Gesellschaft möglich ist. Wir haben keine Zeit mehr zu jammern und keine Zeit dafür, diese Kultur des ‚Schießens und Weinens‘ der Linken fortzusetzen. Auch wenn dies von den besten israelischen Schriftstellern, Filmemachern und Intellektuellen erfolgreich weltweit vermarktet wird. Die Zeit, ‚zu schießen und zu weinen‘, ist vorbei. Wir brauchen jetzt einen politischen Plan, der den Kampf gegen Rassismus mit einer Zukunftsvision verbindet, die für ein gemeinsames Leben und Gleichberechtigung statt Trennung und Abgeschiedenheit steht.“
Das schreibt der bekannte israeliscdhe Schriftsteller Nir Baran am Schluss seines Artikels „Wir müssen Israel aus seiner Lebenslüge wecken“, der im Feuilleton der FAZ v. 10.07.14 veröffentlicht wurde. Baran hat die Familie des ermordeten palästinensischen Jungen (er wurde bei lebendigem Leibe verbrannt) besucht und ist der Meinung, dass in Israel der „Zeitpunkt für eine moralische Revolution“ gekommen sei. Als die Mörder des Jungen noch unbekannt waren, hätte die „falsche moralische Überlegenheit“ in der israelischen Öffentlichkeit einen Höhepunkt erreicht. Es könne nicht sein, dass die grausame Tat von Juden verübt worden sei, dass „Juden nicht auf so eine grausame Art töten“, sagten die Politiker. Die schlichte Wahrheit sei, so Baran, dass sich Juden darin von anderen Völkern nicht unterschieden.
Im Zentrum von Barans Überlegungen steht der alltäglich Rassismus innerhalb der jüdischen Gesellschaft, den so viele nicht wahrhaben wollen. „In meinen Augen ist dies das brennendste Thema; die Besatzung ist die Folge der Unfähigkeit Israels, die Rechte der Nichtjuden anzuerkennen. Die Sache wird noch dadurch kompliziert, dass viele Juden – durch die Propaganda der Panikmacher, die den Holocaust zu ihren eigenen Zwecken nutzt und mit der Angst spielt, wir seien nur ‚einen Schritt von Auschwitz entfernt‘ – in dem Gefühl moralischer Überlegenheit und des Opfer-Seins leben. Wenn man von solchen Gefühlen geschützt wird, kann man nicht in den Spiegel sehen. Man ist mit Rechtfertigungen beschäftigt, mit der Behauptung, der jüdische Israeli sei ‚für das Leben‘, der andere aber, der Palästinenser, ‚für den Tod‘. Nach 47 Jahren Besatzung, nach Festnahmen, Morden, Landenteignungen und permanenter Unterdrückung im Alltag, spricht Premierminister Benjamin Netanjahu tatsächlich von einer ‚moralischen Kluft‘ zwischen ‚uns und den Palästinensern‘, und die Menge glaubt ihm.“
Der ganze lesenswerte Artikel hier.
Der Schriftsteller Nir Baram, 1976 in Jerusalem geboren, setzt sich seit Jahren für die Gleichberechtigung der Palästinenser und für Frieden in Israel ein. Auf Deutsch erschien von Baram 2012 der Roman „Gute Leute“ im Hanser Verlag. Sein neuer Roman „Der Schatten der Welt“ wird 2015 erwartet.
Sönke Hundt