Ein Schritt zurück, zwei Schritte vor – Jeremy Corbyn gibt im Antisemitismus-Streit nach und marginalisiert seine Gegner

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Labour übernimmt gängige Antisemitismus-Definition“, so titelten gestern die deutschen Nachrichtenagenturen und interpretierten dies als Niederlage von Jeremy Corbyn, der sich stets gegen eine vollständige Übernahme dieser Definition samt der umstrittenen Beispiele gewehrt hat . Das ist nicht ganz falsch. Wer nun aber schlussfolgert, Corbyn ginge geschwächt aus diesem unwürdigen „Sommer-Theater“, täuscht sich. Erst am Wochenende konnten sich bei den turnusmäßigen Wahlen des Parteivorstandes ausschließlich Mitglieder durchsetzen, die auf der Liste der Momentum-Bewegung standen, die Corbyn politisch stützt. Gleichzeitig konnte Labour – mitten in der angeblichen Krise – einen neuen Mitgliederrekord verzeichnen. Corbyn sitzt fester im Sattel als je zuvor und kann sich nun wieder den wichtigen Themen zuwenden. Diese Botschaft sollte auch hierzulande gehört werden, da Parallelen zu #Aufstehen durchaus denkbar sind. Von Jens Berger.

Der vom rechten Flügels der Labour-Partei instrumentalisierte „Antisemitismus-Streit“ lähmte die politische Arbeit der britischen Linken nun bereits seit Monaten und mit tatkräftiger Unterstützung fast aller britischer Massenmedien drohte die Debatte sich auch noch bis in den Herbst zu ziehen. Um die fruchtlose Kampagne zu beenden und endlich wieder selbst die politische Agenda bestimmen zu können, zog die Parteispitze nun einen Schlussstrich. Labour übernimmt die Antisemitismus-Definition samt der umstrittenen Beispiele, ergänzt dies jedoch mit dem Zusatz, der einen Missbrauch der Definition zur Unterdrückung der Rede- und Meinungsfreiheit bei den Themen Israel und Palästina verhindern soll. Wie dies gelingen soll, bleibt ein Geheimnis. Jeremy Corbyn konnte sich in diesem Punkt nicht durchsetzen. Er musste die von ihm eingebrachte Ergänzung zum Positionspapier zurückziehen, nachdem klar wurde, dass er im Vorstand dafür keine klare Mehrheit finden würde. Diese Niederlage dürfte nun zumindest vorübergehend etwas Ruhe in die Debatte bringen, obgleich Mitglieder des rechten Parteiflügels bereits klar gesagt haben, dass es ihnen nicht um das Thema „Antisemitismus“ geht, sondern darum, Corbyn loszuwerden und die Partei wieder zu übernehmen.

Dieses Ziel ist jedoch spätestens seit dem letzten Wochenende ferner denn je. Bei den turnusmäßigen Neuwahlen eines Teils des National Executive Committees, einer Art Parteivorstand, in dem jedoch auch Vertreter parteinaher Organisationen, wie beispielsweise der Gewerkschaften, sitzen, mussten neun der 39 Plätze neu belegt werden. Diese neun Regionalvertreter der Labour-Partei werden turnusgemäß von der Basis gewählt und in diesem Jahr setzten sich bei der Wahl ausschließlich Mitglieder der Momentum-Bewegung durch – einer Sammlungsbewegung, deren Ziel es ist, zusammen mit Jeremy Corbyn progressive politische Positionen innerhalb der Partei und der Gesellschaft mehrheitsfähig zu machen. Momentum ist also durchaus vergleichbar mit der gestern in Deutschland gestarteten Aufstehen-Bewegung. Dass der rechte Parteiflügel bei den Vorstandswahlen keinen einzigen Kandidaten durchsetzen konnte, ist ein echter Kantersieg für Momentum und Corbyn, dessen Position innerhalb der Labour-Partei nun unangefochten ist.

Dies unterstreicht eine weitere vollkommen überraschende Meldung vom Wochenende. Trotz Schmierenkampagne, trotz angeblicher „Massenaustritte“ jüdischer Parteimitglieder und trotz einer breiten Einheitsfront gegen Jeremy Corbyn konnte die Partei im August offenbar mehr als zehntausend neue Mitglieder
begrüßen und hat nun rund 540.000 Mitglieder. Vor Corbyns Kandidatur für den Parteivorsitz waren es nur rund 190.000. Jeremy Corbyn und Momentum haben also die Zahl der Parteimitglieder fast verdreifacht und so auch dafür gesorgt, dass dem rechten Flügel sinnbildlich die Basis abhanden gekommen ist.

Ohne die Sammlungsbewegung Momentum wäre der Erfolg von Jeremy Corbyn undenkbar. Mehr noch – ohne Momentum wären progressive Positionen in der Labour-Partei nie angekommen. Heute wird – vor allem in Deutschland – gerne vergessen, dass Labour nach dem Ende der beiden neoliberalen Falken Blair und Brown ganze fünf Jahre von dem farblosen Verwalter Ed Miliband geführt wurde und für eine fantasielose Politik des „Weiter so“ stand. Parallelen zu den Steinmeiers, Gabriels und Nahles´ oder den Riexingers und Kippings sind durchaus erkennbar.

Man muss keine neue Partei gründen, wenn man auch alte Parteien mit einer Sammlungsbewegung renovieren und zu einer progressiven Politik zwingen kann. #Aufstehen muss nun das deutsche Momentum werden. Dann können auch die Deutschen, wie vor eineinhalb Jahren die Briten, ihre Lethargie und Hoffnungslosigkeit beerdigen und konstruktiv an einer progressiven politischen Alternative arbeiten. Nebenbei: Die rechte UKIP, die vor Corbyns Amtsantritt ein Magnet für die Unzufriedenen war und zeitweise in den Umfragen bis zu 20% erzielen konnte, ist heute weitestgehend marginalisiert. Und dies liegt nicht nur am Brexit, sondern auch daran, dass es eine realistische, progressive Alternative auf der Linken gibt. Auch dies ist eine Lektion, die in Deutschland gehört werden muss.

Quelle (mit freundlicher Genehmigung): NachDenkSeiten v. 5. September 2018 Verantwortlich: Jens Berger

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