In der Haaretz schrieb Gideon Levy am 2. Tag des neuen Jahre 2022 einen Artikel mit dem Titel: „Israel Killed 318 Palestinians in 2021. How Is Mahmoud Abbas the Terrorist?“ (leider hinter einer Bezahlschranke)
Hier einige Auszüge in deutscher Übersetzung:
Wir schreiben das Jahr 2022. Und immer noch gibt Israelis auf Seiten der Rechten, die etwas dagegen haben, mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas zu sprechen. Er ist ein Terrorist, sagen sie. Wir schreiben das Jahr 2022, und immer noch gibt es Menschen in Israel, die diese grundlose und lächerliche Behauptung ernsthaft vertreten. Es ist wohl zwecklos, noch mit ihnen zu sprechen.
Das Treffen zwischen Abbas und Verteidigungsminister Benny Gantz in der vergangenen Woche diente allein dazu, über die Aufrechterhaltung der Besatzung zu sprechen. Es gehört eine unglaubliche Chuzpe dazu, wenn einige sogar dieses Treffen noch kritisieren. Denn an den Händen des israelischen Politikers, der jetzt mit Abbas spricht, klebt mehr Blut als an den Händen des alten palästinensischen Präsidenten aus Ramallah. Es dürfe keine Gespräche mit Mördern und Terroristen geben? In diesem Fall müsste das heißen: keine Gespräche mit Benny Gantz. […] Gantz ist nämlich derjenige, der als Terrorist bezeichnet werden müsste! Benny Gantz leugnet diese Tatsache auch überhaupt nicht. Er ist sogar noch stolz darauf. Was übrigens auch für für Yitzhak Rabin gilt. Auch er müsste viel eher als Arafat als Terrorist bezeichnet werden. Der leidende Rabin?! Er schreckte davor zurück, Arafat, mit dem er Verhandlungen führte, die Hand zu geben.
Es gibt Morde, die die Welt anklagt. Andere vergibt sie, auch wenn sie in jeder Hinsicht ebenso verabscheuungswürdig sind. Die Welt des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman hätte eigentlich zusammenbrechen müssen nach der brutalen Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi mit anschließender Zerstückelung der Leiche im saudischen Konsulat in Istanbul. Bekanntlich hat der saudische Kronprinz die Mörder, die er beauftragte, freigelassen. Aber: der Morde wurde in der Welt verdammt, und gegen Saudi-Arabien wurden einige Sanktionen verhängt.
Aber wie war das eigentlich mit dem Mord an einem anderen Journalisten? Wer hat hier die Mörder geschickt? Am 8. Juli 1972 wurde das Auto des in Akko geborenen palästinensischen Journalisten, Autors und Intellektuellen Ghassan Kanafani in die Luft gesprengt. Er und seine 17-jährige Nichte waren sofort tot. Zugegeben, seine Leiche wurde nicht zerstückelt und er wurde nicht in einem Konsulat sondern in der Nähe seines Hauses in Akko getötet. Aber war der Mord an Kanafani etwa legitimer als der Mord an Kashoggi? Beide waren Gegner ihrer Regierung. Kashoggi ging es um sein Land. Kanafani ging es um das Land, das er verloren hatte. Kashoggi unterstützte die Muslimbruderschaft und Kanafani war politischer Aktivist der Volksfront zur Befreiung Palästinas.
Der Mord an Kanafani war eins der schlimmsten Verbrechen des israelischen Staates – eines von vielen. Was folgte auf den Mord? Wahrscheinlich ein Augenzwinkern oder ein Achselzucken, vielleicht auch Belobigungen. Aber ist irgendjemand in der Welt auf Idee gekommen, nach Kanafanis Tod Sanktionen gegen Israel zu verhängen? Es klingt lächerlich, so etwas auch nur vorzuschlagen. Kanafani wurde „eliminiert“, und das war erlaubt. Kashoggi wurde ermordet, und das war nicht erlaubt.
Allein im vergangenen Jahr hat Israel 319 Palästinenser getötet. Es war ein eher ruhiges Jahr, ohne einen echten Krieg und mit relativ wenigen Terroranschlägen. Etwa 319 Palästinenserinnen und Palästinenser wurden getötet, fast alle ohne einen Grund, fast alle starben unbewaffnet. Nur wenige von ihnen hatten irgendjemanden in Gefahr gebracht. Sie waren zum größten Teil Demonstranten und Bauern. Nur wenige hatten tatsächlich versucht, Terroranschläge zu verüben.
Mahmoud Abbas war trotzdem bereit, den Mann zu treffen, der für die Tode verantwortlich ist oder sie sogar öffentlich unterstützte.
Im Jahr 2021 wurden auch 11 Israelis getötet, das sind 29mal weniger. Ein Verhältnis von 319 zu 11. Über die geringe Zahl der israelischen Opfer freuen sich sicherlich viele Israelis. Aber darüber hinaus gibt es in der israelischen Öffentlichkeit keine Fragen. […]
319 zu 11. Was ist das für eine Relation? Ist es einfach das Kräfteverhältnis zwischen beiden Seiten? Sind die für den Tod der 319 Verantwortlichen die Guten, die nur ihr Leben schützen? Sind die für den Tod der 11 Verantwortlichen Mörder und Terroristen, mit deren Führern man sich nicht treffen darf?
Wieviel palästinensisches Blut muss noch vergossen werden, bevor die Menschen in Israel es wagen werden, sich ehrlich und mutig die Frage zu stellen, wer hier der Terrorist ist und wer (nur) für seine Rechte kämpft. […]
(Übersetzung: Sönke Hundt)