Sie haben es auf die Meinungsseite der Washington Post geschafft: Steven Levitsky, Professor für Politologie an der Harvard University und Glen Weyl, assistant professor für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften an der University of Chicago. Sie sind Zionisten und unternehmen es trotzdem, Israel wegen seiner Besatzungspolitik zu kritisieren und offen zum Boykott Israels aufzurufen. Hier ihr Artikel in der Washington Post vom 23. Oktober 2015 (Übersetzung: Sönke Hundt).
„Wir waren unser Leben lang Zionisten. Wie andere progressive Juden in den USA haben wir Israel unterstützt, weil wir der Überzeugung waren, dass erstens ein Staat notwendig ist, um unser Volk vor zukünftigen Katastrophen zu schützen, und dass zweitens ein jüdischer Staat – als eine Lehre aus dem Holocaust – nur demokratisch sein könne und in den universellen Menschenrechten sein Fundament haben würde. Undemokratische Maßnahmen des israelischen Staates, wie die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens könnten, so dachten wir, nur vorübergehend sein.
Wir müssen jetzt die Realität zur Kenntnis nehmen, dass sich die Besetzung als permanent erwiesen hat. Und dass fast ein halbes Jahrhundert nach dem Sechs-Tage-Krieg Israel immer mehr zu einem Apartheid-ähnlichen Staat wird, vor dem viele seiner einstigen Führer gewarnt haben. Die Zahl der Siedler in der Westbank ist um das 30-fache gestiegen, von 12.000 im Jahr 1980 auf heute 389.000. Die Westbank wird immer mehr als Teil Israels angesehen, und die grüne Linie zur Kennzeichnung der besetzten Gebiete ist inzwischen aus vielen Landkarten gelöscht worden. Israels Staatspräsident Reuven Rivlin erklärte kürzlich, dass die Kontrolle über die Westbank „keine Frage der politischen Debatte mehr ist. Sie ist zu einer Grundtatsache (basic fact) des modernen Zionismus‘ geworden.“
Diese „Grundtatsache“ stellt für uns amerikanische Juden ein ethisches Dilemma dar und wirft die Frage auf, ob wir weiterhin einen Staat unterstützen können, der permanent einem anderen Volk die Grundrechte verweigert. Es stellt sich dabei auch ein Problem aus zionistischer Perspektive, weil damit Israel einen Weg eingeschlagen hat, der schließlich seine eigene Exististenz bedroht. So wie in den Fällen Rhodesien und Südafrika wird die permente Unterdrückung der Palästinenser unweigerlich dazu führen, dass sich Israel immer mehr von den westlichen Demokratien isoliert. Nicht nur die Unterstützung Europas schwindet, auch die öffentliche Meinung in den USA – die felsenfest schien – ist in Bewegung geraten, vor allem unter den Jüngeren. Ein Paria-Staat als internationaler Status kann kein Rezept für Israels Überleben sein.
Die demographische Entwicklung in Israel, die die israelische Gesellschaft zu zerreißen droht, erhöht dabei den Druck. Die wachsende Siedlerbewegung und die Zunahme der ultra-orthodoxen jüdischen Bevölkerung schürt einen jüdischen Chauvinismus und führt zur zunehmenden Entfremdung des ebenfalls wachsenden arabischen Teils der Bevölkerung. Indem immer mehr Gemeinden sich abschotten, setzt Israel das Mindestmaß an Toleranz aufs Spiel, das für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar ist. In einem solchen Klima wird Gewalt, wie jetzt in den jüngsten Anschlägen in Jerusalem und der Westbank wieder deutlich geworden, immer mehr zur Normalität.
Die andauernde Besatzung bedroht schließlich die Sicherheit, die sie ja eigentlich schützen sollte. Die Sicherheitslage in Israel hat sich seit den 1967er- und 1973er-Kriegen dramatisch verschlechtert. Die Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien, die aktuelle Schwächung des Irak und Syriens sowie Israels inzwischen überwältigende militärische Überlegenheit – einschließlich seiner (inoffiziellen) Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung – haben dazu geführt, dass Israel existentiell durch seine arabischen Nachbarn nicht mehr bedroht ist. Auch ein Hamas-geführter palästinensischer Staat könnte Israel nicht zerstören. In diesem Sinne erklärten sechs ehemalige Direktoren des israelischen Inlandsgeheimdiensten Shin Bet in dem Dokumentarfilm „The Gatekeepers“ (2012): „Es ist die Besatzung, die in Wahrheit langfristig die Sicherheit Israels bedroht. Es ist die Besatzung, die Israel in einen asymmetrischen Krieg zwingt, der Israels internationales Ansehen schwächt und seine Möglichkeiten einschränkt, sich innerhalb von regionalen Bündnissen gegen eine Bedrohung durch sektiererische Extremisten zur Wehr zu setzen. Es ist die Besatzung, die schließlich den eigentlichen Grund für die Gewaltausbrüche der Palästinenser darstellt.“
Dadurch, dass die Besatzung permanent geworden ist, untergraben Israels Führer die Überlebensfähigkeit ihres Staates. Es ist bedauerlich, dass die Opposition in Israel gegen diesen Kurs immer schwächer geworden ist. Dank des derzeitigen wirtschaftlichen Aufschwungs, der vorübergehende Sicherheit durch das System der Sperranlagen und dank des Raketenabwehrsystems „Iron Dome“ fühlt sich die große Mehrheit der säkularen Zionisten sicher. Sie sieht zur Zeit keine Notwendigkeit, den schwierigen Weg zu einem dauerhaften Friedens zu gehen, was nur bedeuten kann, dass ihre Landsleute die Siedlungen in der Westbank verlassen und Israel das Leiden der Palästinenser als moralische Schuld anerkennt.
Wir sind an einem kritischen Punkt angelangt. Die Zunahme der Siedlungen und die demografischen Trends werden es bald unmöglich machen, dass Israel seinen Kurs noch ändern kann. Seit Jahren haben wir die Regierungen in Israel unterstützt – auch diejenigen, mit denen wir nicht einverstanden waren – in der Überzeugung, dass Israel unter der Voraussetzung seiner eigenen Sicherheit im Sinne seiner eigenen langfristigen Existenzinteressen handeln würde. Aber diese Strategie ist fehlgeschlagen. Wir haben, als die Unterstützer von einst, tragischerweise zu dieser verhängnisvollen Entwicklung beigetragen. Die Hoffnung, dass Israel die notwendigen und harten Entscheidungen ohne den Druck von außen trifft, wird von uns als nicht mehr realistisch angesehen.
Für alle, die wie wir Israel unterstützen, ist es sehr schmerzlich, jetzt Druck von außen ausüben zu müssen. Aber das einzige Mittel, das bleibt, um Israels Politik wirklich zu verändern, ist die Verweigerung der finanziellen und diplomatischen Unterstützung von Seiten der USA sowie der Boykott von Waren und Dienstleistungen und die Rücknahme von Investitionen. Ein Boykott, der sich nur auf die in den Siedlungen hergestellten Produkte bezieht, wird nicht ausreichen, um Israel wirklich dazu zu bewegen, über den Status quo nachzudenken.
Das ist der Grund, warum wir uns, zögerlich zwar aber trotzdem entschlossen, jetzt weigern, nach Israel zu reisen, dass wir in Israel produzierte Waren boykottieren und dass wir unsere Universitäten und ihre gewählten Vertretungen dazu auffordern, Israel die Unterstützung zu verweigern. So lange, wie Israel nicht in einen Friedensprozess eintritt, der entweder zu einem souveränen palästinensischen Staat führt oder der den Palästinensern innerhalb der Ein-Staat-Lösung die vollen Bürgerrechte garantiert, können wir Israels jetzige Politik nicht länger unterstützen – weil sie langfristig Israels Existenz aufs Spiel setzt.
Israel ist natürlich nicht der schlimmste Menschenrechtsverletzer in der Welt. Bedeutet es also nicht die Anwendung von doppelten Moralstandards, wenn wir nur zum Boykott Israels aufrufen? Der Einwand ist richtig. Aber wir lieben Israel, und wir sind zutiefst besorgt um sein Überleben, was nicht in gleichem Maße für andere Länder gilt. Anders als im Fall der international geächteten Staaten Nordkorea oder Syrien würde ein Boykcott Israel tatsächlich treffen. Denn die israelische Regierung könnte ihren verhängnisvollen Kurs ohne die Absicherung durch die USA nicht weiter durchhalten; das gilt für finanzielle Hilfen, für Investitionen und den Warenaustausch ebenso wie für die moralische und diplomatische Unterstützung durch die USA.
Wir wissen, das einige der Befürworter eines Boykotts Gegner Israels sind oder Israel sogar hassen. Unsere Motivation ist genau entgegengesetzt: sie besteht in der Liebe zu Israel und im Wunsch, es zu retten.
Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, war seinerzeit entsetzt über den ethno-religiösen Fanatismus, den er in Südafrika vorfand. Er schrieb folgendes: ‚Wir wollen keinen Burenstaat, sondern ein Venedig.‘ (1)
Amerikanische Zionisten müssen heute Druck auf Israel ausüben, um Herzls Vision zu bewahren – und um Israel zu retten.“
(1) Theodor Herzl: From Assimilation to Zionism. By Jacques Kornberg, Indiana University Press, Bloomington und Indinapolis 1993, S. 168
Ja, der Text ist gut; vielen Dank auch für die Übersetzung. Besser wäre es gewesen, wenn diese US-Salonzionisten schon Jahrzehnte früher auf die Ideen gekommen wären, die sie jetzt äußern. Klar denkende Menschen haben das alles schon lange gesagt, sind aber immer mit der Antisemiten-Keule mundtot gemacht worden.