Der umkämpfte CDU-Antrag wurde schließlich am Mittwoch, 1. März 2017, von einer Mehrheit in der Hamburger Bürgerschaft abgelehnt. In dem Antrag hieß es u.a.: „Wer unter der Fahne der BDS-Bewegung zum allgemeinen Boykott israelischer Waren und Dienstleistungen aufruft, der spricht heute in der gleichen Sprache, in der man einst die Menschen dazu aufgerufen hat, nicht bei Juden zu kaufen. Das ist plumper Antisemitismus, wie ihn schon die Nationalsozialisten benutzt haben. Mit BDS kommt der Antisemitismus als Antizionismus daher, doch auch in den neuen Kleidern des 21. Jahrhunderts ist Judenfeindlichkeit grundsätzlich zu verurteilen und abzulehnen. […]“ (der ganze Antrag hier)
Ein Antrag von SPD und Grünen dagegen wurde mit Mehrheit angenommen. Und also beschloss die Bürgerschaft etwas völlig Selbstverständliches, nämlich dass sie es „für legitim [halte], die Politik israelischer Regierungen zu kritisieren, ohne in den Verdacht von Antisemitismus zu geraten.“ (der ganze Antrag hier)
Also viel Lärm um nichts? Nicht ganz, denn in dieser Bürgerschaftssitzung kulminierte ein über mehrere Wochen und mit großer Erbitterung geführter Streit in Hamburg über die Autonomie der Universität und über das Recht von Fakultäten und Institutionen, auch nicht mainstream-konforme Wissenschaftler in ihren Mauern zu Wort kommen zu lassen. Prof. Dr. Farid Esack, ein international bekannter und renommierter Religionswissenschaftler („Befreiungstheologe“) mit der besonderen Expertise für islamische Theologie, war seit Beginn des Wintersemesters zu einer Gastprofessur an der Akademie der Weltreligionen an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg eingeladen worden.
Der südafrikanische Wissenschaftler, unter Nelson Mandela u.a. Gleichstellungsbeauftragter für Frauen- und Homosexuellenrechte und Verfasser vieler Bücher zum Thema Islam und Diskriminierung, erregte Anstoß durch seine Eigenschaft als Vorsitzender der BDS-Bewegung in Südafrika. Die Israelische Botschaft forderte die Universität sofort und ultimativ auf, Esack „nicht mehr auftreten zu lassen“ und fuhr schwerstes Geschütz auf. Farid Esack habe sich in der Vergangenheit antisemitisch geäußert und habe mit der Leugnung des Holocaust sympathsiert. Die „Christlichen Israelfreunde Norddeutschlands“ und die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) in Hamburg unterstützten diesen Angriff. Volker Beck, religionspolitischer Sprecher der Bundes-Grünen, wandte sich mit einem Brief an die Universität und befand: „So jemand hat keinen Platz an einer Universität“. (Welt.de v. 26.01.2017) Und Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) erklärte pflichtschuldig, dass sie „keine Form von Antisemitismus an unseren Hochschulen“ akzeptieren werde.
Es gab allerdings und erfreulicherweise auch mäßigende Stimmen. Stefanie von Berg, religionspolitische Sprecherin der Regierungsfraktion der Grünen in der Bürgerschaft, hielt die Auffassungen von Farid Esack für „aushaltbar“. Daniel Bax referierte in einem längeren Artikel in der Taz (v. 09.02.2017), abgedruckt ebenfalls in der Internetplattform Quantara (01.03.2017) über die Hintergründe dieser so vordergründigen Affäre. Die BDS-Bewegung sei in vielen Ländern (USA, Großbritannien oder Skandinavien) verbreitet und habe viele prominente Fürsprecherinnen wie z.B. Naomi Klein, Judith Butler oder Laurie Penny. In Südafrika sei BDS sogar mehrheitsfähig und werde offiziell von der Regierung unterstützt. Farid Esack sei in Südafrika während der Zeit der Rassentrennung in einem der damals typischen Townships aufgewachsen. Er verbinde in seinen Büchern den islamischen Glauben mit einer Kritik am Kolonialismus, Imperialismus und westlicher Hegemonie.
BDS werde von ihm unterstützt, weil viele Veteranen aus der Apartheid-Zeit in Südafrika die Parallelen ziehen würden zur Situation der Palästinenser in ihrem Befreiungskampf. In der Taz heißt es weiter: „Esack ist sich der historischen Sensibilitäten hierzulande durchaus bewusst. Dass er jedoch unterschlagen soll, dass er die Situation in Israel mit der in Südafrika zur Zeit der Rassentrennung für vergleichbar hält, das sieht er nicht ein. In den besetzten Gebieten sei die Lage sogar noch schlimmer, findet er. Auch andere prominente Südafrikaner wie Nelson Mandela und Bischof Desmond Tutu haben die Lage in Israel ähnlich scharf angeprangert.“
Inzwischen hat auch Ilan Pappe, der bekannte israelische Historiker, der heute an der University of Exeter in Großbritannien lehrt, sich zu dem „Hamburger Fall“ geäußert. In vielen Ländern der Erde (in Nord-, Mittel- und Südamerika, Afrika, Australien, Neuseeland) werde zur Zeit ihre Geschichte unter dem Paradigma des Siedlerkolonialismus untersucht. Nun würden nicht wenige Wissenschaftler*innen, auch israelische, untersuchen, ob sich dieses Paradima nicht auch auf Israel und Palästina anwenden ließe. Das „Journal of Settler Colonial Studies“ habe diesem Thema jüngst zwei Extra-Bände gewidmet. Doktorand*innen in der ganzen Welt, auch in Deutschland, würden an diesen Themen arbeiten.
„Akademiker*innen zum Schweigen zu bringen“, so Ilan Pappe, „die über Siedlerkolonialismus oder ethnische Säuberung in Israel und Palästina lehren oder diese Themen in ihrer Forschung weiter vertiefen, stellt eine schwere Verletzung akademischer Freiheiten und der Meinungsfreiheit dar. Es delegitimiert die große Mehrheit der Akademiker*innen weltweit, die heute zum Thema Israel und Palästina arbeiten und von denen viele diese Paradigmen anwenden um die Realitäten der Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen. Jemanden in Deutschland zu feuern oder seine Anstellung auslaufen zu lassen aufgrund einer solchen intellektuellen Neugierde, stellt eine Beleidigung gegenüber der Vergangenheit und den erfolgreichen Bemühungen um den Aufbau einer freien und demokratischen Gesellschaft dort dar.“ Bedauerlicherweise geschehe genau dies zur Zeit in Deutschland. Und Pappe bezog sich dabei auf die Fälle Eleonora Raldán Mednivils am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und Farid Esack an der Universität Hamburg.
Sönke Hundt