Der Israeli Miko Peled schildert in seinem Buch „Der Sohn des Generals“, wie für ihn das Ideologie-Gebäude des Zionismus langsam zusammenbrach
Arn Strohmeyer
Ich muss gestehen, dass ich mit einem beträchtlichen Misstrauen zu diesem Buch gegriffen habe. Wenn der Sohn eines der prominentesten israelischen Generäle seine eigene und die Geschichte seines Vaters erzählt, (beide überzeugte Zionisten), was kann man da anderes erwarten als ein Hohelied auf den Besatzungs- und Apartheidstaat Israel? Aber bei der Lektüre wird man mehr als angenehm enttäuscht.
Die Befürchtung war ja zunächst auch durchaus berechtigt, denn General Peled (1923-1995) nahm als junger Offizier 1948 an der ethnischen Säuberung Palästinas (Nakba) und an dem Krieg gegen die arabischen Staaten teil, den die Israelis den „Unabhängigkeitskrieg“ nennen. Auch im Krieg von 1967, in dem Israel das Westjordanland, den Gazastreifen, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel eroberten, spielte Matti Peled eine treibende und entscheidende Rolle. Er war also einer der militärischen Erbauer des siedlerkolonialistischen Staates Israel. Dass sein Sohn bei einem solchen Hintergrund ein gläubiger Zionist wurde, verwundert da nicht, zumal sein Großvater mütterlicherseits der radikale Zionist Abraham Katznelson war, der in der zionistischen Bewegung eine führende Rolle spielte und einer der Unterzeichner der israelischen Unabhängigkeitserklärung war.
Aber der General-Vater machte nach dem Krieg von 1967 eine erstaunliche Wandlung durch. Zunächst erklärte er der obersten militärischen Führung, der er selbst angehörte, dass dieser Krieg kein Krieg um die Existenz Israels gewesen sei, wie die israelische Propaganda behauptet hatte, denn der Staat sei von den arabischen Armeen zu keinem Zeitpunkt bedroht gewesen. In höchster Gefahr habe sich dagegen die ägyptischen Armee befunden, die sich von der Sinai-Halbinsel aus der israelischen Grenze genähert habe. Deshalb habe man sich entschlossen, die Truppen Nassers zu vernichten.
Und dann die Wende: Matti Peled gründete mit dem Publizisten Uri Avnery und anderen Linkssozialisten den „Israelischen Rat für den israelisch-palästinensischen Frieden“. Er forderte die eigene Regierung auf (zu einer Zeit also, als dies noch gesetzlich verboten war), mit der PLO Jassir Arafats zu verhandeln, weil diese die legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes sei. Er forderte zudem den Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten, wandte sich gegen die Siedlungspolitik und setzte sich für die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gazastreifen mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt ein – Forderungen, die auch in der Charta des Rates standen und zur damaligen Zeit äußerst radikal waren.
Matti Peled sagte außerdem voraus, dass die Armee, die er selbst mit aufgebaut hatte, eine brutale Streitmacht ohne Moral werden würde, wenn ihre Hauptaufgabe darin bestehe, eine ganze Nation zu unterdrücken, von der es klar war, dass sie Widerstand gegen die Besatzung leisten würde. Außerdem machte er sich Sorgen um den Zustand der jüdischen Demokratie, die er als Folge der Besatzung in der Gefahr sah zu korrumpieren – Prophezeiungen, die sich inzwischen erfüllt haben. Matti Peled machte diese Äußerungen als Zionist, der er sein Leben lang blieb, aber er war sich bewusst, dass nur ein gerechter Frieden unter Gleichen Israels Zukunft sichern könne. Dieser außergewöhnliche Mann redete nicht nur, er kämpfte (wenn auch erfolglos) für seine Ideen, traf mit Jassir Arafat in Tunis zusammen und pflegte eine enge Freundschaft mit dem Vertrauten des PLO-Chefs, dem Arzt und Politiker Issam Sartawi, der später ermordet wurde. Mit 45 Jahren verließ Matti Peled die israelische Armee, lernte Arabisch, studierte die Literatur dieses Kulturkreises, um dann noch Professor für dieses Fach zu werden.
Der Sohn Miko Peled sucht in seinem Buch nach den Gründen für die erstaunliche Wandlung seines Vaters. Der frühere Fatah-Kommandeur Abu Ali Shahim entschlüsselte ihm das Rätsel. Kurz nach dem Krieg von 1967 tauchte im Flüchtlingslager Rafah im Gazastreifen ein israelischer Offizier mit einem Trupp Soldaten auf. Sie befahlen allen Leuten, aus ihren Häusern zu kommen. Dann nahmen die Soldaten eine Selektion vor: Die Frauen und Kinder unter 13 Jahren schickten sie in die Häuser zurück, die Männer und Jungen über 13 brachten sie in einen anderen Teil des Lagers, stellten sie an eine Wand und erschossen sie. Die Leichen machten sie mit einer Planierraupe unkenntlich. Abu Ali Shahim verlor bei diesem Massaker alle männlichen Mitglieder seiner Familie.
Matti Peled, der zu dieser Zeit auch Gouverneur von Gaza war, erfuhr von der Mordaktion, überzeugte sich an Ort und Stelle von der Wahrheit des ihm berichteten Geschehens und leitete eine Untersuchung ein. Er hat in seiner Familie und seinem Sohn Miko gegenüber nie über dieses Massaker gesprochen, aber es ist ganz offensichtlich, dass es für ihn die innere Wende brachte. Der Palästinenser Abu Ali Shahim sagte zu dem Sohn: „Es wurde unter uns bekannt, dass dieser Vorfall ihn aus einem ‚Militanten‘ in einen Mann verwandelte, der für den Frieden eintrat. Ich merkte. dass Ihr Vater auf unserer Seite war, und das schwemmte allen Zorn in meinem Herzen vollkommen weg. Vollkommen!“ Der zionistische General Matti Peled wird so bei den Palästinensern zu einem großen Sympathieträger, in Israel dagegen nennt man ihn einen „Verräter“.
Der Sohn Miko Peled, der in Israel und den USA aufgewachsen und erzogen worden ist und seinen Wehrdienst in einer israelischen Elite-Einheit abgedient hat, schildert in seinem Buch, wie er sich langsam von dem zionistischen Hintergrund seiner Familie und seines Staates löst, weil er diese Ideologie immer mehr als brutal und unmenschlich empfindet. Als seine Schwester, die Pädagogin Nurit Peled, bei einem Terroranschlag ihre Tochter verliert, ist er schockiert, reagiert aber nicht mit Hass, sondern begrüßt die Gründung einer Organisation von jüdischen und palästinensischen Eltern, die bei Anschlägen ebenfalls Kinder verloren haben und sich nun gemeinsam für den Frieden einsetzen. Auch Nurit Peled tritt dieser Organisation bei.
In San Diego (USA), wo Miko Peled eine Karateschule betreibt, nimmt er Kontakt zu dort lebenden Palästinensern auf, tritt mit ihnen gemeinsam bei Vortragsveranstaltungen auf, unternimmt Reisen ins Westjordanland und in den Gazastreifen, kommt mit vielen Palästinensern in Kontakt und kann aus allen diesen Begegnungen nur den Schluss ziehen: „Warum dämonisieren wir diese Menschen, warum fürchten wir sie, wo wir sie doch mit offenen Armen begrüßen sollten?“ Er ist überzeugt: Die Palästinenser wollen den Frieden, aber das zionistische Israel will ihn nicht.
Miko Peled lässt damit auch die Positionen seines Vaters weit hinter sich. Er lehnt den Zionismus ab, weil er für ihn identisch ist mit Gewalt, Unterdrückung und Rassismus. Frieden in Palästina kann es – davon ist er überzeugt – nur außerhalb des ideologischen Paradigmas des zionistischen Staates geben. Er macht den zionistischen Siedlerkolonialismus für die offene politische Wunde im Nahen Osten verantwortlich, die hier seit der Ankunft der ersten jüdischen Siedler klafft. Er zitiert den französischen Schriftsteller Franz Fanon, der schrieb: „Der Kolonialismus ist keine Maschine, die des Denkens fähig ist, ein Körper, der Vernunft besitzt. Er ist nackte Gewalt und gibt nur auf, wenn er mit einer noch größeren Gewalt konfrontiert ist.“
Deshalb nennt Miko Peled das ausführende Organ dieser Gewalt, die israelische Armee, eine „Schande“ und eine „Terrororganisation“, fordert die jungen Israelis zur Wehrdienstverweigerung auf, wirft Israel vor, aus dem Gazastreifen ein riesiges Gefängnis, ja ein „Konzentrationslager“ gemacht zu haben. Die ständigen brutalen Angriffe gegen den Gazastreifen sieht er als Fortsetzung des permanenten Krieges gegen die Palästinenser, der seit mehr als 60 Jahren betrieben werde und dessen Ziel es sei, die ethnische Säuberung Palästinas (Nakba) zu Ende zu führen. Er hält BDS für den einzigen Weg, diese Besatzungsbarbarei endlich zu stoppen. Das Ziel ist für ihn ein säkularer demokratischer Staat, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt leben können. Nur so sei der Frieden möglich.
Solche Ein- und Ansichten zwingen Miko Peled auch, das Verhältnis zu seinem Vater zu überdenken. Er ist überzeugt, dass der General es mit seinem versöhnenden Ansatz ernst gemeint hat, aber er bescheinigt ihm auch, gravierende Fehler gemacht zu haben. Miko Peled schreibt: „Er versuchte, die Bestie im Zaum zu halten, zu deren Erschaffung er selbst beigetragen hatte, aber Israel wird vor nichts haltmachen.“ Das abschließende Urteil über den Vater fällt bitter aus: „Matti Peled spielte eine wichtige Rolle bei der Etablierung eines rassistischen, kolonialistischen Unternehmens in Palästina durch einen gewaltsamen Prozess der ethnischen Säuberung. Danach kämpfte er für die Aufrechterhaltung dieses Staates, indem dieser einen Kompromiss mit seinen Opfern, den Palästinensern, schloss. Heute bleiben vom ehemaligen Palästina nur noch kleine Bruchstücke, in denen die Palästinenser kaum noch Rechte genießen und gleichzeitig der Gnade des Militärs und der Geheimpolizei Israels ausgeliefert sind, zwei Institutionen, die sie bisher gnadenlos unterdrückt haben.“
Und auch die Mutter bezieht er in seine Kritik ein. Er bat sie, das mit einer handschriftlichen Widmung versehene Bild des Zionistenführers und ersten israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion im Arbeitszimmer des Vaters abzuhängen – mit der Begründung: „Er war ein grausamer Mensch und war für schreckliche Verbrechen verantwortlich.“ Aber die Mutter weigerte sich. Das Bild hängt noch heute dort.
Miko Peled hat ein sehr ehrliches, deswegen bewegendes und äußerst wichtiges politisches Buch geschrieben. Er beschreibt seine Wandlung vom überzeugten Anhänger des Zionismus (einer chauvinistischen Stammesideologie) zum Weltbürger, Menschenrechtler und Universalisten, der es mit der Gleichheit und dem Frieden unter allen Menschen (nicht nur in Palästina/Israel) sehr ernst meint. Dem Vater war dieser Schritt nur halb gelungen, der Sohn schafft ihn dann ganz und steht damit in der besten Tradition der großen humanistisch gesinnten Juden. Dem Buch ist allergrößte Verbreitung zu wünschen – vor allem unter Lesern, die immer noch an den Zionismus glauben, ihn mit Judentum gleichsetzen und ihn deshalb rückhaltlos verteidigen.
Miko Peled: Der Sohn des Generals. Reise eines Israeli in Palästina, Zürich 2016, ISBN 978-3-85990-290-9, 23,80 Euro
25.07.2017