Über 5000 Menschen waren dem Aufruf von mehreren türkischen und palästinensischen Gruppen sowie dem Friedens- und Nahost-Forum gefolgt. Sie zogen vom Hauptbahnhof durch die Bremer Innenstadt bis zum Marktplatz. Die Organisatoren hatten sich große Mühe gegeben und im Vorfeld über viele Facebook-Seiten verbreitet, dass nur palästinensische Fahnen gezeigt und keine Parolen, die als hetzerisch hätten verstanden werden können, in Sprechchören gerufen sollten. Nicht zuletzt sorgten wohl um die 100 Ordner dafür, dass die Demonstration und die Kundgebung friedlich verliefen. Es gab ein Gerangel um ein bestimmtes Transparent, das später auch vor der Rednertribüne gezeigt wurde, doch davon später.
Die Erwartungen der Medien wurden enttäuscht
Die Erwartungen der Medien, vor allem der Bildzeitung, nach einer „Hass-Demo“, die „jüdische Bürger in Angst“ versetzen würde (so die Bildzeitung in zwei reißerischen Artikeln am Tag vorher) wurden nicht erfüllt. Unglaublich auch ein Kommentar von Radio Bremen am Tag vor der Demonstration. Jochen Grabler formulierte seine „Erwartungen“ an die Demonstration der 5000 so: „Testosteron gepeitschte junge Männer vorneweg, verhetzt, aus jeder Pore dampfend vor Hass.“ Und: „Wenn sich jetzt Andersdenkende nicht vor die Türe wagen, wenn – was Allah, der Christengott und Jahwe am besten gemeinsam verhüten mögen – Bremer Juden auf offener Straße angegriffen und gejagt werden, wenn Geschäfte gestürmt werden, weil irgendwer behauptet, sie seien in jüdischer Hand, wenn der Holocaust geleugnet, Fahnen des heiligen Krieges hoch gehalten, Hitler gepriesen, die Juden ins Gas gewünscht….“ Herr Grabler meinte tatsächlich die Demonstration am 23. Juli in Bremen, die, als er das schrieb, noch gar nicht stattgefunden hatte. Hoffentlich versinkt er in tiefer Scham, wenn ihm seine Kolleginnen und Kollegen von Radio Bremen ihre recht fairen Berichte im Hörfunk und in der Regionalsendung „Buten un Binnen“ über die Demo, so wie sie tatsächlich stattgefunden hat, zu lesen und zu sehen geben.
Die Polizei, mit der vorher vom Orga-Team genaue Absprachen getroffen worden waren, äußerte sich anerkennend über die Vorbereitung und den Ablauf von Demonstration und Kundgebung. „Die Stimmung war während des Aufzuges und der Kundgebung emotional, aber aus polizeilicher Sicht friedlich. Die Zusammenarbeit mit dem Veranstalter hat sowohl im Vorfeld als auch während der Veranstaltung reibungslos funktioniert.“ (Presseerklärung der Polizeit). Das Orga-Team konnte das nur bestätigen. Als nach Schluss der Veranstaltung eine Gruppe von Polzistinnen und Polizisten vorbeimarschierte, wurden sie für ihr durchweg kooperatives Verhalten mit Beifall bedacht.
Trauer, Wut und eine Schweigeminute
Allerdings: die Trauer und die Wut über die unglaublichen Geschehnisse der letzten Wochen im Gaza-Streifen waren durch die Fahnen, Transparente und die vielen Sprechchöre hör- und sichtbar. Am intensivsten waren das Mitgefühl und die Solidarität wahrscheinlich, als alle Rufe und Sprechchöre aufhörten und die Tausenden auf dem Marktplatz in einer Schweigeminute der vielen Toten und unschuldigen Opfer in diesem Krieg gedachte.
Die Reden auf deutsch, türkisch und arabisch
Der erste Redner war der bekannte Journalist und Autor mehrer Bücher über den Nahost-Konflikt, Arn Strohmeyer. Wieder einmal würde Israel seine Kriegsmaschinerie auf ein so gut wie unbewaffnetes und wehrloses Volk loslassen und in den Gaza-Streifen einmarschieren. Strohmeyer sagte mit voller Absicht „unbewaffnet“, denn die Palästinenser hätten nicht einen einzigen Panzer, keine Flugzeuge und keine Kanonen, während die israelische Armee davon als die viertstärkste Militärmacht der Welt reichlich habe. „Es findet dort kein Krieg zwischen zwei gleich starken militärischen Gegnern statt, wie uns hier oft eingeredet wird. Was Israel zur Zeit in Gaza anrichtet, ist ein Massaker schlimmsten Ausmaßes.“ Arn Strohmeyer ging zum Schluss seiner häufig von Beifall unterbrochenen Rede auf den immer wieder erhobenen Vorwurf des Antisemitismus ein. Wenn es antisemitische Ausfälle gäbe, und es hätte sie gegeben, wäre das schlimm. Aber das Eintreten für Humanität, für die Menschenrechte und für die Einhaltung des Völkerrechts habe nichts mit Antisemitismus zu tun. „Wer das behauptet, macht sich selbst der Inhumanität und eines perversen Denkens schuldig! Das sollten wir (wir Deutsche!) aus unserer Geschichte gelernt haben.“ (Die ganze Rede hier)
Die beiden anderen Reden wurden in türkischer und arabischer Sprache gehalten. Um für volle Transparenz zu sorgen, hielten die Veranstalter für die Presse Übersetzungen bereit. Bektas Ömer, Imam in Hemelingen, hielt seine Rede auf türkisch. Er sagte (lt. Übersetzung) u.a.: „Es fließen Blut und Tränen. Es gibt Völkermord, und die Regeln des Völkerrechts und der Menschenrechte werden missachtet. Die islamische Welt ist zerstritten und kämpft mit ihren eigenen Problemen. Und auch sie schauen nur zu. Um zu verstehen, was in Gaza (und in Palästina) passiert, muss man kein Experte oder Geschichtswissenschaftler sein. Es reicht, die Bilder von sterbenden und toten Kindern, Frauen und Alten zu sehen. Palästina gehört den Palästinensern und möchte in Frieden mit allen Religionen leben. Zwischen 1517 und 1817, über 400 Jahre gab es Frieden. Alle hatten die gleichen Rechte und haben friedlich neben- und miteinander gelebt. Die Situation in Palästina ist nicht nur ein Problem Palästinas. Es ist auch ein Problem für 1,5 Milliarden Muslime in aller Welt, die hier ihre heiligen Stätten haben, die aber nicht frei zugänglich sind.“
Salam El-Sara, der Vorsitzende der palästinensischen Gemeinde, hielt seine Rede auf arabisch. In seiner ebenfalls sehr emotionalen Rede (lt. Übersetzung) führte er u.a. aus: „Ich möchte mein Mitleid ausdrücken für die vielen Opfer, die die Angriffe auf Gaza bisher gefordert haben. Wir, die Palästinenser, unsere arabischen Brüder und Schwestern und alle, die hier versammelt sind, alle, die den Frieden lieben, verurteilen auf das Schärfste den kriegerischen Angriff auf unser Volk… Bis jetzt hat es auf palästinensischer Seite über 500 Tote und über 5000 Verletzte gegeben. Durch die schon lang anhaltende Blockade ist die Versorgung mit medizinischen Gütern zusammengebrochen, so dass die Verwundeten nicht versorgt werden können…“
Der Streit um ein kleines Transparent
Das Transparent mit der Aufschrift „Kindermörder Israel“ sorgte für ein Gerangel unter den Kundgebungsteilnehmern. Die Ordner versuchten, die Träger dazu zu bewegen, das Transparent nicht zu zeigen, was diese aber nicht akzeptieren wollten. So blieb es schließlich und war während der Kundgebung deutlich sichtbar (und es wird in den Medienberichten an bevorzugter Stelle auftauchen!) Allerdings muss auch festgestellt werden: verboten ist eine solche Aussage natürlich nicht, und es ist nicht außerhalb der Rede- und Demonstrationsfreiheit, wenn die israelische Armee und die israelische Regierung mit diesen Vorwürfen konfrontiert werden. Die Medien hatten gerade berichtet, dass sich eine deutsch-palästinensische Familie nach Warnungen der israelischen Armee nach Gaza Stadt geflüchtet und eine Mietwohnung in einem Hochhaus bezogen hatte, das den Namen „Bursch Assalam“, d.h. „Friedensturm“ trug. Es nützte nichts. „Ein israelischer Kampfjet feuerte mindestens zwei Raketen auf das Hochhaus. Sechs Etagen stürzten zusammen und begruben die Bewohner.“ Darunter auch die Familie Kilani mit ihren fünf Kindern. (Spiegel-online v. 23.07.14) In dem Hochhaus konnten mit Sicherheit keine Abschussrampen oder irgendwelche Tunneleingänge versteckt sein, die einen eventuellen Grund für diesen Angriff hätten liefern können. Also: wenn schon Tucholsky sagen durfte „Soldaten sind Mörder“, haben Palästinenser und andere in Deutschland jedes Recht, „Kindermörder Israel“ zu rufen. Es ist ein schwerer und sehr emotionaler Vorwurf, aber er ist nicht verboten, obwohl von Politikern und in vielen Medien häufig ein gegenteiliger Eindruck erweckt wird. Noch müssen sich die Menschen auf Protestdemonstrationen nicht an den inzwischen üblichen Nato-Sprachgebrauch halten und die vielen zivilen Opfer als „Kollateralschaden“ bezeichnen.
Die UN halten die humanitäre Situation in Gaza für untragbar. Nach einem Bericht im Berliner Tagesspiegel vom Tage der Demonstration (23.07.14) warnte die Menschrechtskommissarin Navi Pillay vor „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch der Hamas machte sie Vorwürfe.“
Es starben bei den Kämpfen und den Bombardierungen inzwischen zwei israelische Zivilisten, 29 israelische Soldaten und 639 Palästinenser. Rund 4040 Menschen seien bei den Angriffen verletzt worden, so der Leiter der Rettungskräfte im Gaza-Streifen, Aschraf al-Kidra am 23. Juli 2014, dem Tag der Demonstration in Bremen. Ein Ende ist nicht abzusehen; die Kämpfe und die Bomben- und Raketenangriffe gehen unvermindert weiter.
Sönke Hundt
Fotos: Hartmut Drewes und Sönke Hundt