Israel, Demokratie, Apartheid und BDS – einige Anmerkungen zur Antisemitismus-Debatte

Von Norman Paech
I.
Es gehört zu den Standards der Legenden über Israel, diesen Staat als die einzige Demokratie im Nahen Osten zu bezeichnen, in den Worten Ehud Baraks die „Villa im Dschungel“. Dies mag für die jüdische Bevölkerung so zutreffen, versteht sich Israel doch offiziell als jüdischer Staat. Für die palästinensische Bevölkerung, immerhin gut 20 % der gesamten Bevölkerung, ist Demokratie allenfalls ein Wunschtraum. Dies haben Regierung und Parlament mit einem Gesetz am 19. Juli 2018 bestätigt, welches den Titel „Israel: der Nationalstaat des jüdischen Volkes“ trägt. Es beginnt mit den Worten: „Das Land Israel ist die historische Heimat des jüdischen Volkes, in dem der Staat Israel entstand.“ Kein Wort von dem Volk, das die jüdischen Siedler dort vorfanden und dem sie ihr Land wegnahmen. Kritiker wie Unterstützer sind sich darin einig, dass es sich wohl um eines der wichtigsten Gesetze handelt, das je von der Knesset erlassen wurde. Denn ab jetzt ist auch gesetzlich mit Verfassungsrang festgelegt, dass der Staat jüdisch ist. Er ist kein Staat aller seiner Staatsbürger, er gewährt nur den Juden alle Rechte. In der Unabhängigkeitserklärung von 1948 hatte es noch geheißen: „Der Staat Israel wird sich der Entwicklung zum Wohl aller seiner Bewohner widmen.“
Auch in diesem Grundgesetz gibt es keine Angaben über die Grenzen des Staates. Der Artikel 7 macht allerdings deutlich, dass sich Israel auf die Grüne Linie, die Grenze des Waffenstallstandes von 1949, nicht einlassen wird und nach wie vor nicht gewillt ist, das Völkerrecht für sich anzuerkennen: „Der Staat Israel sieht in der Weiterentwicklung der jüdischen Besiedlung einen nationalen Wert. Er setzt sich dafür ein, die Etablierung und die Konsolidierung jüdischer Besiedlung anzuspornen und voranzutreiben.“ Die „Weiterentwicklung“ bedeutet nichts anderes als die Annexion weiter Teile des Westjordantales, die für die Gründung eines palästinensischen Staates kein Territorium mehr übriglässt und das ewige „Bekenntnis“ Netanjahus zur Zwei-Staaten-Lösung als hohles Gerede entlarvt. US-Botschafter Friedmann stützt diese klare Ansage zur Annexion mit dem schlichten Satz: „Unter bestimmten Umständen glaube ich, dass Israel das Recht hat, einiges, nicht alles, von der West Bank zurückzuhalten.“ Als er selbst in den USA wegen dieser völkerrechtswidrigen Aussage in die Kritik kam, wurde er sofort von Harvard-Professor Alan Dershowitz in Schutz genommen, der sich darauf berief, bei der Formulierung der berühmten Resolution 242 von 1967 dem US-Repräsentanten bei der UNO Richter Goldberg assistiert zu haben: „Friedman hat Recht und seine Kritiker liegen falsch… Die Hauptkontroverse war, ob Israel ‚alle’ besetzten Territorien in seinem Verteidigungskrieg gegen Jordanien zurückzugeben habe oder nur einige. Das Ergebnis war, dass die verbindliche englische Version der UNO-Resolution bewusst das entscheidende Wort „alle“ ausließ und durch das einfache Wort „Territorien“ ersetzte, was Richter Goldberg und der britische Botschafter Lord Carandon übereinstimmend in der Öffentlichkeit so interpretierten, dass Israel ermächtigt sei, einige Gebiete der West Bank zu behalten.“ (Haaretz v. 12. Juni 2019) Das mag Dershowitz so sehen, hat aber in der gesamten Völkerrechtsliteratur, außer in Israel, keine Unterstützung gefunden. Besetztes Gebiet ist vollständig zurückzugeben, das ist geltendes Völkerrecht.
Gideon Levy hat in der Zeitung Haaretz sofort nach Veröffentlichung des Gesetzes nüchtern darauf hingewiesen: „Das Nationalstaat-Gesetz setzt dem vagen Nationalismus und dem gegenwärtigen Zionismus, wie er heute existiert, ein Ende. Das Gesetz beendigt die bisherige Farce, Israel sei >jüdisch und demokratisch< – eine Kombination, die nie existierte und nie existieren konnte. Denn der Widerspruch ist dieser Kombination inhärent. Die beiden Werte sind nie unter einen Hut zu bringen, außer mit Betrug…. Es ist ein Gesetz voller Wahrheit.“ Nur wenige bekennen sich zu diesem Widerspruch so ungeschminkt wie die durch ihr Faschismus-Parfüm bekannt gewordene Justizministerin Aeylet Shaked: „Wir müssen den jüdischen Charakter des Staates schützen, auch wenn das bedeutet, Menschenrechte zu opfern.“
Zumindest wurde sofort nach der Verkündung des Gesetzes die arabische Sprache von einer offiziellen Sprache neben dem Hebräischen zu einem dem Hebräischen untergeordneten Status zurückgestuft. Es verbannt Arabisch faktisch aus dem öffentlichen Verkehr. Das demokratische Prinzip der Gleichheit, welches bisher in keinem der Verfassungsgesetze verankert werden konnte, hat auch in dem Nationalstaats-Gesetz keinen Platz gefunden. Es gibt eine Fülle von Gesetzen, die die Palästinenser in Israel seit der Gründung benachteiligen, nun hat sich die „einzige Demokratie“ im Nahen Osten auch offiziell und gesetzlich von der Demokratie verabschiedet. Es stimmt, dass das Gesetz nicht viel Neues erklärt, denn schon lange geht es der israelischen Politik nicht mehr einfach um das Existenzrecht Israels, sondern um das Existenzrecht des jüdischen Israel, in dem die arabischen Israelis nur Bürger zweiter Klasse sind.
II.
Die Knesset streift mit diesen Gesetzen allerdings nicht nur ihr demokratisches Gewand ab. Sie kann nun nicht länger verdrängen und leugnen, dass sich in Israel über die Jahre ein System der Apartheid durchgesetzt hat. Der Vorwurf der Apartheid gegen die israelische Politik gilt hierzulande inzwischen als eindeutiger Ausweis des Antisemitismus. Doch seit den Berichten der UNO-Beauftragten John Dugard, Richard Falk und Virginia Tilley über ihre Untersuchungen vor Ort kann es keinen Zweifel mehr darangeben, dass sich Israel und die besetzten Gebiete in ein gnadenloses System der Apartheid verwandelt haben.
So schloss John Dugard seinen Bericht über die besetzten palästinensischen Territorien, den er im Januar 2007 dem Menschenrechtsrat der UNO erstattet hatte, mit folgenden Worten ab: „Die Menschenrechte in Palästina sind über sechzig Jahre auf der Tagesordnung der Vereinten Nationen gewesen und besonders in den letzten 40 Jahren seit der Besetzung von Ost-Jerusalem, der Westbank und des Gazastreifens im Jahr 1967. Über Jahre hinweg konkurrierten die Besatzung von Palästina und die Apartheid in Süd-Afrika um die Aufmerksamkeit der Internationalen Gemeinschaft. 1994 endete die Apartheid und Palästina verblieb als einziges Entwicklungsland in der Welt unter der Unterdrückung durch ein dem Westen verbundenes Regime… Es gibt andere Regime, vor allem in der Dritten Welt, die die Menschenrechte unterdrücken, aber es gibt keinen anderen Fall eines mit dem Westen verbundenen Regimes, welches die Menschenrechte eines Entwicklungsvolkes unterdrückt und dieses schon so lange.“
Es war sein letzter Bericht über die verzweifelte Situation der palästinensischen Bevölkerung. Denn Dugard, südafrikanischer jüdischer Juraprofessor, wurde 2009 auf Druck Israels durch den US-amerikanischen Kollegen Richard A. Falk abgelöst. Dugard bekannte in jenem Jahr, „ich bin Südafrikaner, der in der Apartheid gelebt hat. Ich zögere nicht zu sagen, dass Israels Verbrechen unendlich viel schlimmer sind als die Verbrechen, die Südafrika mit seinem Apartheid-Regime begangen hat.“
Doch Israel hatte auch nicht viel Glück mit dem nächsten Sonderberichterstatter Falk, der ebenfalls Jude ist. Auch er wurde nach Ablauf seines Mandats 2014 nicht wiedergewählt, weil er an Schärfe der Kritik an Israels Politik John Dugard nicht nachstand. In seinem letzten Bericht an den Menschenrechtsrat im Jahr 2014 bestätigte er, dass die verlängerte Besatzung mit der faktischen Annexion palästinensischen Landes durch die permanente Ausdehnung der Siedlungen und den Bau der Mauer sowie die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenserinnen und Palästinenser alle Merkmale der Apartheid hat. Er empfahl der UN-Generalversammlung, beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ein Gutachten über den rechtlichen Status dieser verlängerten Besatzung einzuholen, in dem „der rechtlich unakzeptable Charakter von ‚Kolonialismus’, ‚Apartheid’ und ‚ethnischer Säuberung‘ festgestellt wird“.
Falk wiederholte und erweiterte diesen Vorwurf in einem gemeinsamen Gutachten mit Virginia Tilley vom März 2017 für die Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) der UNO. In ihm kommen die Autoren zu dem Schluss, „dass die israelische Politik als rassistisch zu beurteilen ist und zum Zwecke der Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel ein Apartheid-System errichtet hat“. Der Vorwurf des Rassismus und der Apartheid rief eine derartige Empörung bei einflussreichen Mitgliedern der UNO hervor, dass UN-Generalsekretär António Guterres den Bericht von allen offiziellen UN-Webseiten entfernen ließ. Die ESCWA-Exekutivsekretärin Rima Khalaf trat aus Protest gegen diesen beispiellosen Vorgang von allen ihren Ämtern zurück und erklärte, dass sie weiterhin zu diesem Bericht stehe. Als Guterres Virginia Tilley aufforderte, sich von ihrem Bericht zu distanzieren, legte auch sie ihr Mandat nieder und bekannte sich weiterhin zu dem Bericht. Worüber soll man mehr staunen, über die Feigheit des Generalsekretärs oder den Einfluss Israels? Doch noch entscheiden sie nicht über die Wahrheit.
III.
Und damit komme ich zu einem dritten Punkt meiner Anmerkungen. Der Kampf der Palästinenserinnen und Palästinenser um einen eigenen Staat, wie er ihnen seit 1947 von der UNO-Generalversammlung versprochen wird, hat ihnen in über 70 Jahren weder einen Staat noch die Anerkennung gleicher Rechte und Chancen weder in den besetzten Gebieten noch in Israel selbst gebracht. Ob diplomatische Initiativen oder „Friedens“konferenzen, Selbstmordattentate oder Raketen aus dem Gazastreifen, der Landraub durch die Ausweitung der Siedlungen hat die Lebenssituation der Palästinenser nur verschlechtert, die Perspektive eines eigenen Staates verschüttet und auch keine Hoffnung in die Anerkennung ihrer Rechte, geschweige denn Gleichberechtigung in einem gemeinsamen Staat mit den Juden aufkeimen lassen.
Bundesregierung und Parteien in Deutschland scheinen geradezu gelähmt, eine notwendige Kritik gegen Israel zu formulieren. Wenn einem Politiker wie Gabriel einmal die Wahrheit über die Zustände in den besetzten Gebieten entschlüpft, sieht er sich massiven Pressionen gegenüber. Und Günter Grass erntete für seine Warnung vor einem Krieg gegen Iran in Medien und Politik nichts als Empörung und Drohungen. Wir haben die vereinzelte Unterstützung für Grass aus den Parteien durchaus zur Kenntnis genommen. Allgemein gilt aber für sie ganz offensichtlich das, was der Nobelpreisträger Paul Krugman kürzlich in der New York Times über die Gefahren der Israel-Kritik in den USA notiert hat:
„In Wahrheit ist es so, dass ich wie viele liberale Juden in Amerika – und die meisten Juden in Amerika sind noch liberal – es grundsätzlich vermeide, darüber nachzudenken, wo Israel hingeht. Von hier aus gesehen scheint es klar, dass die engstirnige Politik der gegenwärtigen Regierung im Grunde auf einen schrittweisen langfristigen nationalen Selbstmord hinausläuft. Und das ist schlecht für die Juden überall, von der Welt ganz zu schweigen. Aber ich habe an anderen Fronten zu kämpfen, und wenn ich etwas in diesem Sinne äußere, ziehe ich mir massive Angriffe vonseiten organisierter Kreise zu, die jedwede Kritik an israelischer Politik zu Antisemitismus erklären.“
In dieser Situation offensichtlicher Lähmung und Unwilligkeit, Israel zur Anerkennung von Völkerrecht und Menschenrechte zu zwingen, haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen in den besetzten Gebieten, insgesamt 170, 2005 die Bewegung „Boycott, Desinvestment & Sanctions“ (BDS) ins Leben gerufen. Sie hat mittlerweile weltweite Resonanz und Unterstützung gefunden. Es ist eine Bewegung entstanden, die von Gewerkschaften, Wissenschaftlern und ihren Organisationen sowie Wirtschaftsorganisationen und Politikern getragen wird, die sich der Forderung der Palästinenser nach Sanktionen gegen Israel angeschlossen haben. So hat erst kürzlich die britische Handelskette COOP den Import von Obst und Gemüse aus Israel verweigert, solange das Exportland die Handelsabkommen mit der EU unterläuft und Produkte aus Siedlungen nach Europa ausführt. Aber auch in Israel selbst wird der Boykott von namhaften Persönlichkeiten unterstützt, wie z.B. die Schriftsteller Amos Oz und David Grossmann, die sich weigern, die Siedlung Ariel zu besuchen oder der ehemalige Sprecher der Knesset Avraham Burg, der keine Waren aus den besetzten Gebieten kauft, die als israelische Waren deklariert sind. Das Ziel des Boykotts ist einfach. Er will damit erreichen, dass die Israelische Regierung sich endlich an das Völkerrecht hält und die zahlreichen Resolutionen der UNO nach Aufhebung der Besatzung erfüllt. Der Boykott ist begrenzt, er soll nur solange andauern, bis die israelische Regierung das Völkerrecht anerkennt und die Besatzung beendet.
Die Art der geforderten Sanktionen ist unterschiedlich, sie reicht von der Forderung nach Suspendierung der Assoziation Israels an die EU über den Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten bis hin zum Boykott israelischer Waren, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler, die z.B. auch in den Siedlungen auftreten oder die Besatzungspolitik der Regierung unterstützen.
Die Bewegung in Deutschland ist sich durchaus der Problematik dieser Forderungen vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte bewusst. Sie weist jedoch jede Gleichsetzung von BDS mit der Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden“ entschieden zurück. Mit der Forderung nach Suspendierung der Assoziation Israels an die EU, dem Verbot des Waffenexports in diese kriegsgefährdete Region und dem Boykott aller Waren, die aus den besetzten Gebieten stammen, wird nichts anderes als die Einhaltung der europäischen Rechtsordnung und des Völkerrechts gefordert. Dieses schlicht mit dem Vorwurf des Antisemitismus zu diskreditieren, wie es im Mai dieses Jahres eine große Koalition der Fraktionen im Bundestag getan hat, ist ebenso unsinnig wie unhistorisch. In dieser Erklärung heißt es: „Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind jedoch antisemitisch… Die Aufrufe der Kampagne zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler sowie Aufkleber auf israelischen Handelsgütern, die vom Kauf abhalten sollen, erinnern zudem an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte. „Don’t Buy“-Aufkleber der BDS-Bewegung auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole „Kauft nicht bei Juden!“ und entsprechenden Schmierereien an Fassaden und Schaufenstern… Der Deutsche Bundestag verurteilt alle antisemitischen Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert werden, tatsächlich aber Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen und ihre Religion sind, und wird ihnen entschlossen entgegentreten.“
Nichts stimmt an diesen Sätzen, mit denen der Bundestag die Parolen des Ministeriums für strategische Angelegenheiten in Jerusalem übernimmt, welches seit Jahren die Kritik und Aktionen von BDS bekämpft. Wer den Boykott von internationalen Universitäten, Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und zahllosen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, die Geltung von Völkerrecht und Menschenrechten für das palästinensische Volk durchzusetzen mit dem Boykott der Nazis zur Vernichtung des jüdischen Volkes gleichstellt, hat die Ebene ernstzunehmender Argumentation verlassen und sich auf das Niveau politischer Verleumdung herabbegeben. Es ist widersinnig und falsch, Kritik und Sanktionen, die man gegen andere Staaten ausgiebig und nachdrücklich fordert und praktiziert, hinter einer unseligen Geschichte zu verstecken und Palästina als völkerrechtsfreies Gebiet außerhalb von UNO und UNO-Charta zu akzeptieren
Die BDS-Bewegung unterscheidet sehr genau zwischen Juden, dem Staat Israel und der israelischen Regierung, ihre Aktivitäten richtet sich allein gegen die Politik der Regierung, weder gegen den Staat noch gegen die Juden. Dieser Unterschied wird mit der Formel des „israelbezogenen Antisemitismus“ bewusst verwischt, um gerade die Kritik an der Regierung zu unterbinden. Die Zivilgesellschaft wird immer wieder aufgefordert, sich mit friedlichen Mitteln bei der Lösung politischer Auseinandersetzungen und Probleme einzumischen. Hier tut sie es, wo Regierungen und politische Parteien offensichtlich versagen. Wo Reden, Diplomatie und Resolutionen nicht helfen, müssen andere friedliche Wege beschritten werden. Das programmatische Bekenntnis zu einem unabhängigen und demokratischen Palästina neben einer Garantie für die Existenz Israels verlangt allmählich mehr, als das Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung bei jeder Gelegenheit stereotyp zu wiederholen. Der Boykott zur Befreiung eines besetzten Landes ist dabei nur eines der legitimen Mittel, wie es schon vor zwei Jahren über 200 europäische Juristen und im Mai dieses Jahres 240 israelischer und jüdische Intellektuelle in öffentlichen Erklärungen bekundet haben. Erst jüngst haben Avraham Burg, ehemaliger Sprecher der Knesset und Dani Karavan, Schöpfer des Walter Benjamin-Denkmals in Portbou und des Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin, in einem gemeinsamen offenen Brief erklärt: „Doch gibt es an BDS als solcher nichts Antisemitisches. Gewaltlose Volkskampagnen sind ein legitimes und angebrachtes Mittel, um Staaten dazu zu bewegen, mit schwerer Diskriminierung und arger Verletzung von Menschenrechten ins Gericht zu gehen. Denken wir an die Apartheid in Südafrika.“ (Haaretz v. 17. Juni 2019, Übersetzung Reiner Bernstein)
Ein jüngster Vorfall zeigt erschreckend, welch groteske und zugleich gefährliche Auswüchse dieser Kampf gegen die BDS-Bewegung inzwischen angenommen hat. Der Leiter des Jüdischen Museums trat von seinem Amt zurück, weil er dem Druck von jüdischer Seite (Zentralrat der Juden, israelischer Botschafter, israelische Presse, Ministerpräsident Netanjahu) nicht mehr glaubte, standhalten zu können. Unmittelbarer Anlass war eine Presseerklärung des Museums, in der auf die Kritik der 240 jüdischen Intellektuellen an dem Bundestagsbeschluss in der Tageszeitung hingewiesen wurde. Sie erregte den wütenden Protest des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Schuster („Das Maß ist voll“), war aber nur die Fortsetzung einer Kampagne, die bereits gegen eine vielbeachtete und gelobte Ausstellung des Museums „Wellcome to Jerusalem“, „eine faszinierende, facettenreiche Darstellung der Bedeutung Jerusalems für Juden, Christen und Muslims“, (taz. v. 15./16. S. 3) schon Netanjahu zur Intervention veranlasst hatte. Er beschwerte sich bei der Bundesregierung über die „antiisraelischen Aktivitäten des Museums“. An dieser Kampagne wird besonders deutlich, dass es ausschließlich um die Abschirmung des Regimes in Jerusalem vor jeglicher Kritik geht. Der Antisemitismus, obwohl bei jeder Gelegenheit als Allzweckwaffe gegen die Kritiker eingesetzt, spielt hier keine Rolle, da ihr Einsatz gegen jüdische Intellektuelle und ein jüdisches Museum allzu lächerlich erscheinen würde. Derartige Interventionen helfen im Kampf gegen den Antisemitismus nicht weiter, wie die 240 jüdischen Intellektuellen den Bundestag gerügt hatten. Im Gegenteil, sie vermögen ihn nur zu fördern, da sie die deutsche Sensibilität beim Thema Antisemitismus missbrauchen und instrumentalisieren, wie es Amos Goldberg, Professor für die Geschichte des Holocausts an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Initiator der Protesterklärung der jüdischen Intellektuellen, der Tageszeitung gegenüber erklärt hat. Und noch einmal Avraham Burg und Dani Karavan in ihrem Brief: „Doch der Bundestag hat seine Pflicht düpiert, den Antisemitismus in einer prinzipiellen und aufrichtigen Art zu bekämpfen. Es hat seine liberalen und demokratischen Werte betrogen und ebenso seine Pflicht, Menschenrechte und die Autorität des Gesetzes zu fördern, in Deutschland und in Israel. Gegenwärtig betrügt es auch seine Pflicht als wahrer Freund Israels. Es hat das entscheidende Vermächtnis von 1948 betrogen“.

Ginge es wirklich um die Bekämpfung des nicht nur in Deutschland grassierenden Antisemitismus, müsste der Nahostkonflikt mit in die Debatte einbezogen werden und dabei insbesondere die Besatzungspolitik Israels, ihre Gewalt und Diskriminierung, die Verletzung der Menschenrechte. Es fehlt jedoch die Bereitschaft der Politik, auch in dieser permanenten Missachtung des Völkerrechts durch Israel eine Quelle des allgemeinen Antisemitismus zu sehen, um daraus nicht Konsequenzen ziehen zu müssen.

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