Ehemaliger Mossad-Chef fürchtet um die Zukunft des Zionismus

Ex-Mossad-Chef Shabtei Shavit auf der Herzliya Conference v. 10.06.14 auf youtube

Immer mehr hohe israelische Militärs und Angehörige der Geheimdienste gehen auf Distanz zu Netanyahus Politik gegenüber den Palästinensern. Die Kritik kommt also aus der Mitte des Zionismus und des politischen Establishments, und sie richtet sich immer mehr gegen den zunehmenden Einfluss der religiösen Siedlerbewegung auf die offizielle Politik. Erst am 3. November 2014 hatten sich 106 ehemalige IDF-Generäle und Mossad-Chefs öffentlich zu Wort gemeldet (wir berichteten) und eine „Diplomatie für den Frieden“ gefordert. Jetzt meldet sich (Ha’aretz v. 24.11.14) Shabtai Shavit mit einem langen und ins Grundsätzliche gehenden Artikel zu Wort. Shavit hat eine typische Karriere im israelischen Militär- und Sicherheitsapparat gemacht: von 1958 bis 1959 war er Militärgouverneur der IDF im Abschnitt Süd und dann ab 1964 beim Mossad, dem israelischen Außengeheimdienst, wo er bis zum Generaldirektor aufstieg. Nach seiner Pensionierung war seine Karriere nicht zuende. Er war bzw. ist noch CEO der Maccabi Health Services Group, Chairman des Institute for Counter-Terrorism sowie Berater des Israel National Security Council, des Kommittees der Knesset für auswärtige Angelegenheiten und für National Security (nach Wikipedia).

Er wäre, schreibt Shavit, sehr besorgt über die Zukunft des Zionismus‘. Die Bedrohungen Israels würden immer drängender, ebenso aber auch die Blindheit der Regierung, die politisch und strategisch wie gelähmt erscheine. Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wären bei einem nie dagewesenen Tiefpunkt angelangt. Europa wäre Israel zunehmend „müde“ geworden und überlege schon,  gegen Israel Sanktionen zu verhängen. Russland wende sich immer mehr gegen Israel und fördere seine Feinde. Der Antisemitismus und der Hass gegen Israel hätten Dimensionen erreicht wie seit der Zeit vor dem 2. Weltkrieg nicht mehr. „Unsere Diplomatie und unsere public relations“, schreibt Shavit, „sind kläglich gescheitert, während die Palästinenser wichtige Erfolge erzielen konnten.“

Bedrohlich wäre außerdem, dass Israel immer mehr an Unterstützung in der akademischen Welt verlieren würde. Immer mehr jüdische Studenten würden sich von Israel abwenden. Im Gegenzug würde die globale BDS-Bewegung, die Israel delegitimiere und sogar von vielen Juden unterstützt würde, an Gewicht gewinnen. Die in Israel so intensiv geführte Debatte über die Preise von Milky Pudding Snacks schließlich wäre nach Shavit ein deutliches Zeichen für „eine Erosion der Solidarität, die eine notwendige Bedingung ist für die Existenz Israels.“ Und: „Das Sicherheitsgefühl der Menschen in Israel ist in eine Krise geraten, was sich daran zeigt, dass immer Israelis sich einen ausländischen Pass und damit eine zweite Staatsbürgerschaft besorgen.“

Shabtai Shavit beklagt sich über die zunehmende Arroganz und Überheglichkeit der israelischen Regierung. Er kritisiert vor allem die Zunahme eines religiös-messianischen Einflusses auf die Politik, was in der Konsequenz dazu führe, dass der Konflikt mit den Palästinensern in einen heiligen Krieg („a holy war“) verwandelt würde. Bislang hätte es sich um einen lokalen, politischen Konflikt zwischen zwei kleinen Nationen um ein kleines Stück Land gehandelt. „Jetzt aber tun törichterweise große Teile der zionistischen Bewegung alles, um diesen Konflikt in einen schrecklichen Krieg zu verwandeln, in dem die gesamte islamische Welt sich gegen uns stellen wird.“

Der Ex-Mossad-Chef scheut sich nicht, den großen historischen Vergleich zu ziehen. Der legendäre Bar Kochba hätte einst einen heldenhaften, aber aussichtslosen Kampf gegen das Römische Weltreich gekämpft mit dem Ergebnis des schließlich 2000 Jahre andauernden Exils für das jüdische Volk. Der vernüftige und liberale Teil in der israelischen Gesellschaft würde wissen, was Exil heißt: nämlich die Zerstörung Israels. Den religiösen Sektor würde das wohl nicht weiter erschrecken. Er lebe nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit in Israel. Den Haredim-Anhängern würde Israel und Brooklyn das gleiche bedeuten; sie würden weiterhin als Juden im Exil leben und geduldig auf die Ankunft des Messias warten. Die religiöse zionistische Bewegung glaube, dass die Juden das auserwählte Volk Gottes seien. Für sie wäre das Land heilig, sie wären bereit, alles, selbst für den Preis des Scheiterns, dafür zu opfern. Shavit erinnert an Menachim Begin, einem der Väter der Vision von einem Groß-Israel („Greater Israel“). Aber, als Begin die Möglichkeit für einen Frieden mit Ägypten gesehen hätte, hätte er den Sinai aufgegeben. Der Frieden wäre ihm wichtiger als das Land gewesen.

Was schlägt Shavit vor? Israel sollte den archimedischen Punkt finden, um die bisherige und verhängnisvolle Entwicklung umzukehren. Israel sollte den Vorschlag der Arabischen Liga von 2002 aufzugreifen und zur Basis von umfassenden Gesprächen machen. Als alter Geheimdienst-Mann setzt Shavit zuerst auf Geheimgespräche: zuerst mit den USA, dann mit Saudi-Arabien. Nach einer Abklärung der Themen und der gegenseitigen Erwartungen, sollte Israel öffentlich ankündigen, dass es bereit wäre, Gespräche auf der Grundlage des Dokuments der Arabischen Liga von 2002 zu beginnen. Shavit erhofft sich mit dieser Wende der israelischen Politik eine ähnlich Entwicklung wie nach den Oslo-Vereinbarungen . Fast jedes arabische Land hätte angefangen, mit Israel zu sprechen und sich an vielen kooperativen Projekten auf ökonomischen und anderen Gebieten zu beteiligen. Wenn sich gegenseitiges Vertrauen bilde, gäbe es Chancen für eine Wende zum Besseren.

Eine solche Initiative verlange allerdings „echte und mutige Führerschaft“, schreibt Shavit. Vielleicht würde der Premierminister ja den Mut und die Entschlossenheit dazu finden. Er müsste aber bereit sein, sich den „Aberwitz der gegenwärtigen Politik“ einzugestehen und zu erkennen, dass diejenigen, die Israel in diese bedrohliche Lage gebracht hätten, der religiöse Zionismus und der rechte Flügel in Israels Politik wären.

Nicht ohne Pathos schreibt der Ex-Mossad-Chef am Schluss: „Ich habe diesen Beitrag geschrieben, weil fühle, dass ich sie meinen Eltern, die ihr Leben dem Zionismus gewidmet haben, schuldig bin. Und meinen Kindern, Enkeln und dem Volk Israel, dem ich zwei Jahrzehnte gedient habe.“ („I wrote the above statements because I feel that I owe them to my parents, who devoted their lives to the fulfillment of Zionism; to my children, my grandchildren and to the nation of Israel, which I served for decades.“)

Sönke Hundt

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